Ein „Männer-Manifest“ für Babyboomer

Erschienen im Frühjahr 2012 im TAGES-ANZEIGER (Zürich) und im STANDARD (Wien)

Herr Jemine – oder: Wenn Männer zu viel fühlen

Zu Beginn kurz dies: Selten hat die Autorin dieses Zeitungsartikels sich so sehr auf einen Schreibauftrag gefreut. Endlich hat sie mal ein wirklich interessantes Thema zugeteilt bekommen. Es geht um ein Buch mit dem bombastischen Titel: „Das entehrte Geschlecht. Ein notwendiges Manifest für den Mann“. Keine Frage, dass die Autorin – eine an Männern durchaus interessierte Frau in ihren allerbesten Jahren – sich voller Spannung und Neugierde auf das Buch gestürzt hat.

Geschrieben hat es der Berliner Essayist und Roman-Autor Ralf Bönt, besprochen haben es bislang vor allem Männer, und der überwiegend begeisterte Tenor lautet: „Endlich sagt es mal einer!“ In der Tat stellt Bönt mit seinem „Manifest“ die richtige Frage zur richtigen Zeit, er ringt um die Antwort auf ein nervenzehrendes Dilemma: Auf dem Papier ist die Geschlechterparität erreicht – nun gilt es, sie im Alltag umzusetzen, mit Leben zu füllen. Männern fällt dabei eine Schlüsselrolle zu. Sie müssen als Verbündete ins Projekt „Gleichberechtigung“ einsteigen, wenn es funktionieren soll, und dazu müssen sie sich bewegen – in der Familie, im Job, und auch in dem, was Bönt den „Eros“ nennt.

Immer geht es bei Emanzipationsbewegungen um Freiheit und Gleichheit, im fortgeschrittenen Stadium auch um das Prinzip Vielfalt. So wie Frauen sich nicht auf die Schein-Alternativen „Heilige oder Hure“ oder „Sex-Toy oder Karriere-Biest“ reduzieren lassen wollen, so haben Männer keine rechte Lust mehr auf das Los des Aktenkofferträgers mit Mittelklassewagen, Magengeschwür, Puff-Abonnement und einer niedrigen Lebenserwartung. „Weil er falsch lebt, stirbt der Mann zu früh“, konstatiert Bönt.

„Gut, dass er mit dem frühen Sterben jetzt aufhören will!“, denkt die Rezensentin, die sich, genau wie der Männer-Autor, eine „Partnerschaft auf Augenhöhe“ wünscht – nicht nur im Privaten, sondern auch in der Gesellschaft. So nimmt sie das Männer-Buch also voller Optimismus und vorauseilendem Wohlwollen in die Hand.

Showdown im Sandkasten

Es beginnt mit einem Showdown im Sandkasten, einer ersten „Entehrung“ des männlichen Geschlechts: Ein Vater besucht mit seiner vierjährigen Tochter einen Spielplatz. Dutzende andere Kinder springen dort herum, „beobachtende Mütter“ sitzen am Rand. Als dem Mädchen im Getümmel die Wollstrumpfhose verrutscht, greift der Vater unter den Kinderrock, um das Kleidungsstück zurecht zu zuckeln. Prompt rufen die Mütter die Polizei – und der Mann, der als aktiver Vater doch alles richtig machen wollte (und gemacht hat), muss empörte Blicke ertragen und sich als rechtmäßiges Elternteil vor dem Gesetz ausweisen.

Ralf Bönt ist ein belesener und eloquenter Autor, und in der geschickt komponierten Anfangsszene stecken schon die drei Kernthesen seines Buches. Erstens: Noch immer gibt es zu wenige real existierende Väter – auch zum Schaden des Mannes. Zweitens: Der Mann leidet darunter, dass er als durchsexualisiertes Untier gilt. Drittens: Hysterische Frauen machen mit einer reflexhaften Männerskepsis eine Annäherung der Geschlechter zunichte. Im O-Ton Bönt liest sich das so: „Für ihre Ziele sind Frauen mit Äxten und Suchscheinwerfern in die Büros der Gesellschaft eingedrungen und haben Männer verhört, um mit unterschriebenen Geständnissen wieder herauszukommen.“

Äxte und Verhöre: Hui, das klingt wie das Wutgeheul eines überforderten Maskulisten, erschrickt sich die Rezensentin. Doch der Klappentext des Buches verspricht einen Essay „jenseits von Diffamierungen, Klischees und Schuldzuweisungen.“ So liest sie tapfer weiter: „Junge Frauen wollen immer weniger vom Feminismus hören. (…) Auf keinen Fall wollen sie noch mit dem Opferstatus in Kontakt kommen.“ Einige Sätze später heißt es: „Manche ältere Frauen reden vielleicht deshalb umso lauter vom Feminismus. (…) (Die ewigen Streiterinnen) wirken verbissen, denn sie reden Fortschritte klein und blasen Defizite zu Monstern auf.“

Monsterdefizite

Erneut kommt die Leserin ins Straucheln, denn sie weiß jetzt nicht, ob sie mit 41einhalb zu den „jungen Frauen“ zählt oder zu den „älteren“. Einen „Opferstatus“ möchte sie nicht vor sich hertragen, „Fortschritte“ gibt es ja tatsächlich. Andererseits hat sie durchaus einen Höllenspaß daran, gewisse „Defizite zu Monstern aufzublasen“.

Die Top-Fünf-Lieblings-Monster-Defizite der Rezensentin sind: 1. Frauen stellen die Mehrheit der Bevölkerung, aber nur einen Bruchteil der Führungsposten in Politik, Kultur und Wirtschaft. 2. Frauen schreiben bessere Noten und Abschlüsse, verdienen aber ein Viertel weniger als Männer. 3. Frauen übernehmen die meiste Fürsorge-Arbeit, Kinder-, Kranken-, Altenpflege, und zwar unter- oder unbezahlt. 4. Frauen verursachen weniger gesellschaftliche Kosten, etwa weil sie weniger Gewalt ausüben und Verkehrsunfälle bauen, und als Belohnung für all die Sternchen-Leistungen erwartet sie ein signifikant höheres Risiko für Altersarmut. 5. Schließlich kommen auf einen halbnackten Mann, der, sagen wir, für Duschgel wirbt, etwa vierzehn Millionen dreiviertelnackte Frauen, die für Sportwagen, Fleischwurst und Club-Urlaube werben.

Nicht, dass die Rezensentin – und Frau – kleinlich aufrechnen will! Sie bemüht sich bloß, eine Schneise in die verdschungelten Argumentationslinien des Männer-Manifests zu schlagen, das so wenig von greifbaren Strukturen spricht, so viel aber von, nun ja, verworrenen Gefühlen. Im Kern geht es Bönt um die Entfremdung beziehungsweise Enteignung des Mannes von sich selbst. „Männer wissen nicht nur, dass sie jederzeit ersetzbar sind, sondern auch, dass sie früher oder später ersetzt werden.“ Er fordert ein Recht auf ein „karrierefreies Leben“.

Was er hier antippt, ist dasselbe, was der französische Philosoph Alain Ehrenberg zuvor als „erschöpftes Selbst“ bezeichnet hat: die psychischen und physischen Kosten einer Leistungswelt, die auf dem Ellenbogen- und dem Aufopferungsprinzip basiert und eine befriedigende Koexistenz als Erwerbstätige(r) und Familienmensch erschwert – bekanntermaßen für beide Geschlechter. Bönt drechselt daraus allerdings das perfide Fazit, dass Frauen irgendwie selbst Schuld seien, wenn sie da mitmachen wollten, als „neo-liberales Bierdeckelopfer“. Überhaupt seien Frauen mit der Zeit „immer maskuliner“ geworden, findet der Autor.

Krieg, Abwasser, Problembündel

Tragisch bis treudoof ist es, wie Bönt die Chance vertut, genau an dieser Stelle einen Schulterschluss mit dem „anderen Geschlecht“ zu wagen – um gemeinschaftlich gegen das kapitalistisch gemanagte Patriarchat anzugehen. Lieber macht er sich zum launischen Kumpanen eines Machtapparats, der nicht nur weibliche, sondern auch ein Heer männlicher Erfüllungs-Knechte braucht und benutzt.

„Es waren zweifellos Männer, die mit ihren Forschungen das Elend überwanden, die Unbehaustheit“, dröhnt der Selbstvergewisserungsversuch. Und: „Keine Frau bewarb sich darum, mit rasiertem Kopf und leerem Blick aus der Kriegsgefangenschaft heimzukehren“ oder „die Abwässerkanäle von Paris zu reinigen.“ Dann: „Mit der einseitigen Aufgabe von femininen Leitbildern verlieren wir etwas, das für beide Seiten wertvoll gewesen ist.“ Schließlich weint er: „Seine (des Mannes) Herrschaft gilt als für alles Elend der Geschichte verantwortlich, und ohne jedes Nachdenken glaubt man, durch mehr Beteiligung der Frauen automatisch eine bessere Welt zu erhalten.“

An dieser Stelle würde vermutlich jede Frau das Problembündel gern in den Arm nehmen und ihm zuflüstern: „Ssscht, niemand, der auch nur über einen Funken Resthirn verfügt, behauptet solch einen Schwachsinn, und auch den von Dir gefürchteten ,Schwanz-ab-Feminismus‘ gibt es schon seit zwanzig Jahren nicht mehr!“ Längst hat der Feminismus eine Theorie entwickelt, die moderne Männer und Frauen eifrig diskutieren: das Modell der Intersektionalität. Besprochen wird dabei, wie Klasse und Rasse, Gender und Geld sich gegenseitig bedingen, wie Vor- und Nachteile sich dabei manchmal verdoppeln – alle hängen da mit drin.

Tragikomische Effekte

Spätestens an der Stelle, an der Bönt von „natürlichen“ Geburten ohne Kaiserschnitt und vom Stillen schwärmt, und allerspätestens in dem Absatz, in dem er sich beschwert, dass manche Frauen es nicht fertig brächten, ein Kondom gescheit über das männliche Ding-Dong zu streifen – „Ich fürchte, hier leben wir, dank passiver Frauen, in einem düsteren Entwicklungsland“ – spätestens da begreift man/frau/mensch, dass man das Männer-Manifest als tragikomisches Dokument lesen muss.

Es ist einfach rührend hinter seiner Zeit – aber ebendarin auch wieder sehr aufschlussreich. Immerhin erzählt es, was ein Mann aus den geburtenstarken Babyboomer-Jahrgängen so denkt – ein Vertreter der Männer-Kohorte, die nun endlich schüchtern mal in den Spiegel schaut, sich „engagiert“ nennt und zufällig exakt an den Schalthebeln von Wirtschaft, Kultur und Politik sitzt, zu denen ihre gleichaltrigen Kolleginnen aus irgendwelchen Gründen nur sehr schwer Zutritt finden und von wo aus Männer- und Frauenlöhne, Kinderbetreuung und flexible Arbeitszeiten budgetiert werden.

Der Filou-Clou am Ende des Buches: Bönt spielt den Ball an die Frauen zurück. „Sie wissen nicht realistisch, wie sie sich die Männer vorstellen, mit denen sie leben wollen“, behauptet er. Dann stellt er eine finale Forderung auf: „Überlegt Euch gut, was ihr Machbares von und für uns wollt. Dann überlegen wir uns, inwieweit wir dabei sind.“ Die Antwort auf diesen breitbeinig vorgebrachten Anwurf ist schnell gefunden: „Wir warten darauf, dass Dein Nachfolger, Dein schönerer, schlauerer, großzügigerer, wahrhaftigerer, stärkerer kleiner Bruder alsbald die Volljährigkeit erreicht. Und nun: Schlaf‘ gut!“
.
Ralf Bönt: „Das entehrte Geschlecht. Ein notwendiges Manifest für den Mann“, Pantheon, 160 S., 12,99 Euro