Ernst Haffners BLUTSBRÜDER – eine Rezension

Im August 2013 im FREITAG erschienen

Es beginnt mit einer Szene, die man so oder so ähnlich öfters im Fernsehen sieht, als Standbild in der Tagesschau oder Video-Einspieler bei Maybritt Illner: Eine graugesichtige Menschenmenge steht im „Bezirkswohlfahrtsamt Berlin Mitte“ Schlange. „Die Glieder rücken auf, scharren mit den Füßen, halten in den Händen die unzähligen notwendigen Papiere.“ Eine „Pappnummer“ bekommt jeder, bis irgendwann „die Anträge auf Gewährung der Erwerbslosenhilfe gestellt werden können.“ Von „Ewiger Hilfe“ sprechen, bitter ironisch, die Wartenden.

Auch Ludwig und Jonny lungern auf den Amtsfluren herum. Sie sind um die 20, nicht sehr gebildet, aber kräftig und beweglich, und können einiges an selbstunternehmerischer Berufserfahrung vorweisen – vor allem in den Feldern Prostitution und Hehlerei. Sie haben Hunger und nennen sich „Blutsbrüder“, und so heißt auch der Roman, in dem sie die Hauptrollen spielen, und der jetzt, achtzig Jahre nach seinem ersten Erscheinen, neu herauskommt.

Wiederentdeckt hat das Buch der Berliner Metrolit Verlag, der Anfang 2013 als Tochter des Aufbau Verlags an den Start ging und sich, nach eigener Aussage, der „Popkultur (whatever that is)“ verschrieben hat, auch im archivarischen Sinne. Zuletzt erschien dort eine viel gelobte Neuübersetzung des Jugendkultur-Klassikers „Absolute Beginners“ von Colin MacInnes aus dem Jahr 1959.

Problemjugendliche im alten Weimar

Nun also die „Blutsbrüder“, ein „Berliner Cliquenroman“ von 1932. Geschrieben hat ihn Ernst Haffner, ein Journalist und Sozialarbeiter. Als Streetworker kümmerte er sich um „urbane Problemjugendliche“, wie man heute sagen würde. An die 50.000 junge Erwerbslose lebten damals, zwischen den Weltkriegen, in der Hauptstadt, viele von ihnen waren obdachlos. Was er vom Leben auf der Straße mitbekam, erzählt Haffner auf fiktionalisierte, aber gänzlich unverklärte und so spannende Art, dass Siegfried Kracauer das Buch seinerzeit als beispielhafte „Roman-Reportage“ und „packenden Lesestoff“ lobte. Wenig später verboten die Nazis das Buch, Kracauer floh nach Paris, und vom Autor Ernst Haffner verloren sich, bis heute, alle Spuren.

Die „Blutsbrüder“ erscheinen indes verblüffend lebendig. Ludwig, Jonny, Konrad oder Erwin tragen als „Stricher“ ihre zarte Jungens-Haut zu Markte – und können es kaum erwarten, bis sie sich selber wieder eine Prostituierte leisten können, für ein stumpfes, heterosexuelles Cliquen-Vergnügen, das man heute „Gangbang“ nennt. 2011 drehte Rosa von Praunheim einen Film über die „Jungs vom Bahnhof Zoo“. Die „Blutsbrüder“ von 1932 sind deren Großcousins.

Ähnlich wie manche Stricherjungs heute, sind sie quasi auf der Flucht – innerdeutsche „Illegale“, ausgebüchst aus gefängnisartigen Fürsorgeanstalten, in denen zu Weimarer Zeit Zehntausende Jugendliche verwahrt wurden, vor allem solche, deren Familien im Ersten Weltkrieg oder unter der Wirtschaftskrise zerbrochen waren. Entwurzelte, minderjährige Verlierer – auf ihre Art aber auch ehrgeizige junge Männer, in etwa das Personal, über das aktuell auch der Band „Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland“ berichtet, 2012 herausgegeben vom Archiv der Jugendkulturen.

Neue Sachlichkeit

Als Story aus dem „Berlin von unten“ bewirbt der Verlag den Roman. Was ihn so lesenswert, ja sogar erfrischend macht, sind Haffners Sprache und Haltung. Kein sozialpädagogisches Pathos wendet er an, erst Recht kein nervös ästhetisches Gefasel. Haffner erzählt im Stil der „Neuen Sachlichkeit“, wie eine bedeutende Literaturströmung der Weimarer Zeit hieß. Übersetzt in die Logik der Popkultur kann man es etwa so beschreiben: Die „Blutsbrüder“ interessieren sich nicht für die Zeichensprache der Dinge, nicht für die Logos und was diese individuell codiert „bedeuten“ könnten – sondern dafür, was die Dinge kosten und wie man, verflucht noch mal, an sie herankommt.

Die blutjungen „Blutsbrüder“ sind die Ingenieure ihrer eigenen, ganz archaischen Überlebensmechanik. Ihr Berlin ist eines, das bis heute fort existiert, für das sich aber kaum jemand intereressiert. Sie mokieren sich über die „verschwiegenen Sektlogen“ am Alexanderplatz – und man muss 2013 automatisch an die Champagnerloge „Soho Haus“ denken, und an die Straßenkämpfe zu Füßen des Fernsehturms, die manchmal kurz durch die News tickern. Besonders gern lästern die Jungs über bürgerliche Kulturgockel, die den Moloch Berlin und dessen „Proll-Kultur“ nur als Kulisse wahrnehmen, als „allerbilligste Groschenphantasie einfallsarmer Filmregisseure und anderer Hintertreppengemüter.“ Ludwig, Jonny und die Jungs gehören zu denjenigen, die die Härten ihrer Zeit am klarsten sehen und am stärksten zu spüren bekomen – und die sich kurz darauf, im Jahr 1933, vielleicht, wer weiß, umso williger der brutalsten aller Cliquen anschließen.

Klarer Vorteil Haffner: Er hat etwas zu erzählen – keine lahmen Stil-Erwägungen, sondern einen scharfkantigen Plot. Wenn man die „Blutsbrüder“ über 240 fesselnde Seiten begleitet hat, kann man jedenfalls kein Startup-Clubgänger-Berlin-Identitäts-Geplapper von uralten Ewig-26Jährigen mehr ertragen, und zwar für, grob geschätzt, die nächsten 30 Jahre nicht.

„DIE BLUTSBRÜDER. Ein Berliner Cliquenroman“
Roman von Ernst Haffner, Metrolit Verlag (Aug. 2013), 240 S., 19,99 €

„KRIEG IN DEN STÄDTEN. Jugendgangs in Deutschland“
Hg. Vom Archiv der Jugendkulturen (März 2012), 228 Seiten, 12 €

„DIE JUNGS VOM BAHNHOF ZOO“
Regie: Rosa von Praunheim (2011), 84 Min., Basis Film-Verleih Berlin