„Ich bin süchtig nach der Realität“

Erschienen im Sommer 2014 im Freitag.

Florian Günther jobbte in der DDR auf dem Friedhof und sang in einer Punk-Band. Heute schreibt und verlegt er aufregende Kneipenliteratur, in seinem Magazin „Drecksack“

Goldene Hähne gibt es in Kreuzberg gleich zwei, beide liegen im früheren Punkbezirk SO 36, also da, wo Touristen heute auf der Suche nach Ausgeherlebnissen über die Bürgersteige stolpern. In der Pücklerstraße serviert das Restaurant Goldener Hahn „Cucina Italiana“ für, nun ja, gut gekleidete Genießer. Am Heinrichplatz verharrt derweil die Raucher- und Trinkerkneipe Zum Goldenen Hahn. Über der Theke leuchtet ein Reklameschild für Schultheiss-Bier. Die Tresenkraft – männlich, gar nicht so alt, gar nicht unhübsch – bedient jeden Fremden, also jeden, der nicht als Stammgast bekannt ist, so mürrisch, wie es sich für ein ordentlich geführtes Absturzlokal gehört. „Wein willst du? Musst lauter reden! Weiß? Rot? Zwei Euro.“

Heute, an diesem warmen Samstagabend im Frühsommer 2014, ist mächtig was los bei den Rauchern und Trinkern. Tische, Stühle, Hocker sind alle besetzt, es wird geredet, geknarzt, gelacht, hie und da auch aufs Herzlichste gehustet. Mittendrin sitzt einer und hält unbeirrt einen Vortrag. Ein hagerer Mann vom Typus Biker, vielleicht auch vom Schlage Großstadtindianer, zwischen 50 und 60 Jahre alt, ganz in Schwarz gekleidet, mit Schlapphut und fusseligen langen Haaren. Er liest etwas vor und nuschelt dabei, was daran liegen könnte, dass er schon halbwegs betankt ist; oder daran, dass er das, was er vorträgt, irre komisch findet.

Den Text hat er selbst geschrieben. Es geht um Frauen und Nylonstrümpfe. Genauer gesagt geht es um die Schwierigkeiten, die ein gut abgehangener Stadtindianer mit einer ebenfalls nicht mehr ganz taufrischen Frau in löchrigen Nylons haben kann: Man säuft gemeinsam, zetert, streitet und kommt sich doch näher. Kein schlechter Text. Als Zuhörerin riecht man das schlechte Haarspray, das zur Story gehört, schmeckt das Klima einer selten gelüfteten Wohnung im Schuhschachtelformat – und kommt darauf: Die meisten Menschen leben und lieben ja wohl genauso. Sie erleben keine Abenteuer in Prärien, sie gehen nicht auf Mittelmeerjachten fremd, sondern befummeln sich an Bushaltestellen und auf Kunstledersofas. Oder eben in Lokalen wie diesem.

Fassbinder-Stimmung im Goldenen Hahn

Zwischenapplaus, keckernde Zustimmung. Eine Frau mit strähnigem grauen Haar nestelt in einer Plastiktüte herum und grinst; ihr gegenüber sitzt ein Mann in einer fleckigen, für die Jahreszeit viel zu warmen Jacke, den Kopf wie zu einem Nickerchen auf die Tischplatte gelegt, er grunzt kurz. Der Goldene Hahn in dieser lauen Nacht, der Laden, die Leute: Das ist ein ganz starkes Bild, ein sehr eigener Sound.

Die Szene wirkt wie ein Schnipsel aus einem Fassbinder-Film, frühe 80er. Erst recht in dem Moment, in dem ein Mensch in Karohemd und Weste dazwischenkrakeelt, den vortragenden Stadtindianer anpoltert: „Ey, und nu? Willste weiterlesen? Oder was? Dann mach mal! Wir haben ja nicht ewig Zeit!“ Florian Günther heißt der Mann, und er ist sozusagen der Chef von dit Janze. Der Gastgeber, Impresario, oder sollte man, den neuen Zeiten geschuldet, besser sagen: der Kurator?

Günther jedenfalls hat zu diesem Abend eingeladen: zu einer Lesung aus dem neuen Drecksack, der „Lesbaren Zeitschrift für Literatur“, wie sie im Untertitel heißt. Alle drei Monate erscheint das Blatt, im Eigenverlag, seit 2010. Es ist in einschlägigen Kneipen oder übers Internet erhältlich, für drei Euro je Exemplar, und diese drei Euro lohnen sich, denn jede Ausgabe ist prallvoll mit Texten, die so garantiert nirgendwo anders zu lesen sind. Der Schriftsteller Franz Dobler (The Beast in me, 2002, aufräumen, 2008) nennt den Drecksack „die beste deutsche Literaturzeitschrift“. Jürgen Ploog – Burroughs-Experte und Weggefährte des Junkie-Schriftstellers Jörg Fauser – sprach gar vom „besten Magazin zurzeit in ganz Deutschland“.

Herausgeber Günther, knapp über 50, sagt: „Ja, inzwischen melden sich auch größere Namen bei mir. Auch von diesen Literaturschulen. Aber das Prinzip ist klar: Es müssen gute Geschichten sein. Bloß kein elitärer, unverständlicher Mist. So was drucke ich nicht.“ Er sagt: „Ich will auch Leuten eine Stimme geben, die sonst nirgends vorkommen. Ein Obdachloser, der Haus mit zwei s schreibt: Wo kann der veröffentlichen? Bei mir! Direkt neben denen, die schon Bücher daußen haben.“ Zu sich selbst merkt er an: „Was soll ich denn bei Suhrkamp? Mir geht’s viel besser ohne.“

Pionier in Sachen Crowdfunding

Ja, das ist auch wahr und wichtig: Günther schreibt selbst. Ernsthaft, unermüdlich. Und praktisch unverwechselbar. Der Florian-Günther-Stil klingt wie eine Mischung aus Rolf Dieter Brinkmann, Charles Bukowski, Wolf Wondratschek und … noch irgendetwas anderem. Seine Texte sind meist kurz. Es sind Episoden, die man, hintereinander weggelesen, auch wie eine einzige große Geschichte verstehen kann. Acht Gedichtbände hat er schon veröffentlicht. Einen Bildband mit selbstgeschossenen Fotos. Und drei Romane sind geschrieben worden, „aber die überzeugen mich nicht, die liegen in der berühmten Schublade“.

Genau wie den Drecksack bringt Günther seine eigene Literatur komplett autark heraus, ohne Verlagsvertriebsmaschinerie im Rücken. „Der Nachteil: Kein Schwein schreibt darüber, keiner nimmt deine Sachen wahr.“ Was nicht ganz stimmt. „Günther schreibt mit einer Wucht, als bestünde noch Hoffnung“, bemerkte einmal etwa der Rolling Stone. Und auch im Internet werden seine Sachen langsam, aber sicher nun häufiger verlinkt. Kann man sagen, dass die Fans peu à peu mehr werden? „Dit wär ja toll“, sagt Günther und nimmt erst einen Schluck Filterkaffee, dann einen Schluck Pils, beide Getränke stehen nebeneinander vor ihm, der Treibstoff.

„Ja, was würde Suhrkamp mir denn helfen?“, fragt der Schriftsteller und Zeitschriftenmacher also ganz ernsthaft und rechnet sein Geschäftsmodell vor: „Ich kenne welche, die haben bei größeren Verlagen veröffentlicht, unter ,ferner liefen‘. Da werden vielleicht 500 Bücher verkauft, und proExemplar springt ein Euro für den Autor raus. Na, danke.“

Seine Betriebswirtschaft funktioniert nach dem Crowdfunding-Prinzip, auch wenn das Wort noch gar nicht erfunden war, als er damit anfing: „Es war schon bei meinem ersten Buch vor 20 Jahren so. Das heißt Taschenbillard. Man kannte mich von Lesungen in Kneipen, und ich fragte die Leute: ,Wollt ihr das Ganze auch als Buch haben? Dann bräuchte ich so und so viel Geld.‘“ Beharrlich ließ er bei seinen Lesungen „den Hut rumgehen“, und als um die 2.000 Mark zusammen waren, ging Taschenbillard in Druck. So läuft es bis heute. „Wenn ein Buch fertig ist, ist die Produktion mit den Vorabbestellungen schon bezahlt. Inzwischen kommen jeweils bis zu 1.000 Exemplare heraus. Und die verkaufe ich mal für fünf oder mal für zehn Euro. Na, und jetzt kannste das mit Suhrkamp noch mal gegenrechnen.“

Nonsensname frei nach Jandl

Damit seine Bücher auch wie richtige Bücher aussehen, hat er sich einen beeindruckend klingenden Verlagsnamen ausgedacht: Edition Lükk-Nösens. „Ein Fantasiename. Von Ernst Jandl inspiriert.“ Ernst Jandl, der österreichische Lyriker, ist bekannt für das, was die Germanistik Konkrete Poesie nennt. So konkret wie möglich fallen auch die Texte von Florian Günther aus. Sehr oft schreibt er, wie der nuschelnde Stadtindianer aus der Drecksack-Lesung, über Frauen, Geliebte, Ex-Freundinnen – über Weiber eben. Etwa in dem sehr kurzen, sehr schönen Gedicht Das Ende einer großen Liebe. Es geht so: „Sie mochte /Schostakowitsch. / Ich auch. / Aber nicht so / oft.“ Und fertig. Günther sagt: „Es ist doch das Normale, das Leben: Frauen kennenlernen, Frauen wieder verlieren. Sie sind halt immer da. Also: Wenn man Glück hat. Wenn man Pech hat, sind sie nicht da. Ich liebe Frauen. Selbst wenn es mal kracht: Ich lege immer Wert darauf, dass ich selbstironisch dastehe, in meinen Texten. Ach, und im Leben sowieso.“

Die Ironien, Dellen und Kurven, die das Leben ihm beschert hat, böten tatsächlich Stoff für ein Dutzend Bände. 1963 geboren in Ostberlin, Friedrichshain, macht er als junger Mann eine Druckerlehre. Die schmeißt er, kaum dass er ausgelernt hat, hin, „auch das wieder wegen einer Frau, ach ja“. Es ist ein Skandal in der Familie. „Ich stamme aus einem gutbürgerlichen Ärzte-Haushalt. Da wollte ich raus.“

Er jobbt als Totengräber, verkauft die im Erdreich gefundenen Schädel und Goldzähne, „an Medizinstudenten oder beim Pfandleiher, ja, so was gab’s auch in der DDR“. Verdient sein Geld als Paketbote, Eisenflechter, Grafiker. Und eigentlich schreibt er die ganze Zeit. „Aber ich hatte keine Chance, damit rauszukommen. Alle Ost-Verlage lehnten ab. Von einem hörte ich: ,So, wie Sie die DDR schildern, ist sie nicht.‘ Die wollten mein Zeug einfach nicht haben.“

Bratkartoffeln, sich wegballern

Sein Zeug, das waren Storys, die zum Beispiel rund um die Warschauer Brücke spielten, heute einer der Dreh- und Angelpunkte für Partyreisende aus aller Welt, in der DDR eine Ecke, an der „die Ex-Knackis, die Huren, die Kriminellen, die Parteibonzen, das ganze Sammelsurium an einem ganz kleinen Punkt zusammentraf“. Die Kneipe war schon damals der Meta-Ort – der Raum, in dem „die interessanten Charaktere sich aufhalten. Da stecken die guten Geschichten“. Von den böse strapazierten Begriffen Avantgarde oder Underground hält er nichts. „Das sind nur andere Wörter für Nichtsdraufhaben und Wichtigtun.“ Nein, was Florian Günther umtreibt, ist das, was in den USA the daily grind genannt wird: Kohle verdienen müssen und sich ab und an ein Sexualleben organisieren, Bratkartoffeln zubereiten, fernsehen und sich gelegentlich mal wegballern, damit das alles leichter geht. Und das alles eben: aufschreiben, festhalten. „Macht sonst ja kaum einer.“

Die USA, das Mutterland des daily grind: In den Jahren vor der Wende war es der große Sehnsuchtsort für ihn. Auch wenn Günther die DDR „nicht so schlecht fand, wie sie heute manchmal dargestellt wird“: Das Eingesperrtsein ging ihm auf den Geist. „Ein Freund war ausgereist und schrieb eine Karte aus New York: ,Bin überfallen worden, in der U-Bahn.‘ Und ich war neidisch, dachte: ,Das ist ja toll!‘ Weil das die Welt war! Die DDR war wie ein Heim, ein Kloster.“

Sein erster Eindruck vom real existierenden Westen dann: „Diese Buntheit, diese Reklame überall. Und es war so herrlich dreckig! Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Polizisten, die, schwer bewaffnet, Geldtransporte überwachten, solche Dinger. Und dann erst die Puffs und Peepshows … Aber das ist wieder eine andere Geschichte.“ Seine erste Fernreise – „irgendwie zusammengekratzt, das Geld“ – führt ihn nach Brasilien. „Was ich da sah, in den Slums, das war das Leben, das 70 bis 80 Prozent der Menschen weltweit führen. Ich sah Kinder Müll fressen und wusste: In der DDR wie in der BRD leben wir unter einer privilegierten Käseglocke.“

Diese Erkenntnis war es, die ihn nach dem Ende der DDR wieder verstärkt zum Schreiben trieb. „Jetzt gab es ja niemanden mehr, der behaupten konnte: ,Alles ganz anders.‘“ Die Erkenntnis führte zur Erfindung der Edition Lükk-Nösens – und schließlich eben zur Gründung des Drecksack, der es eines Tages vielleicht doch noch in die großen Feuilletons schafft.

Ein Pils und ein Kaffee auf Fauser

Gerade ist eine Drecksack-Spezialausgabe erschienen, zum 70. Geburtstag von Jörg Fauser, dem – westdeutschen – Schriftsteller, der ebenfalls so brutal fasziniert war vom Dreck US-amerikanischer Machart, der Heroin drückte und soff und im Suff auf der Autobahn spazieren ging, wo er von einem LKW überfahren wurde. „Ich habe eine große Sehnsucht nach Realität, das ist meine Sucht“, sagt Florian Günther, klopft auf den Tresen und nickt zum Personal, in Richtung Zapfsäule: „Hey, machste mir noch mal ’n Pils und ’n Kaffee? Und du von der Zeitung, willst du auch noch was?“