Dieser Text erschien im Frühjahr 2013 in der Suhrkamp-Anthologie MODERN LOVE. Geschichten von der Liebe (Herausgegeben von Susanne Gretter), als Abdruck in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sowie als Hörstück in der ORF-Kultur-Sendereihe Radiogeschichten.
Sie heißt Marie Angelika, so hat man sie getauft (»Angelika« nach ihrer Oma mütterlicherseits), aber alle sagen »Mary« zu ihr, und sie ist eines der glücklichsten Mädchen des Planeten Erde. Sie hat sehr viel, sie weiß sehr viel, und manchmal kann sie es selbst kaum glauben: Dass ihr Leben sich zu einer derart funkelnden Verheißung entwickelt hat. Zu einem Fairy Tale in Flower-Prints. Zu einer Fortsetzungsgeschichte in Nude-Tönen. Zu einem Kunstwerk aus Color Blocking, Stone Grey und Vintage Brokat. Da sie bald ihren vierundzwanzigsten Geburtstag feiert, könnte irgendjemand irgendwann auf die Idee kommen, »junge Frau« zu ihr zu sagen. Aber so weit will sie es eigentlich nicht kommen lassen. Ihr gefällt, was sie ist, und das will sie auch bleiben, forever and always: ein Fashion Girl.
Alles ist voller Liebe, bei ihr. Die Herzchen fliegen nur so durch die Gegend, in ihrer Welt. Das Herz ist ihr Lieblingsbuchstabe, »absolut«, sagt sie, wenn man einmal das Glück hat, sie für eine halbe Stunde zu erwischen, für eine Tasse Tee oder Coffee oder für ein schönes schweres Glas altroséfarbener handmade Brause in einem vollkommen cute eingerichteten Cafe ́, Teakholz, rotweißes Küchenhandtuchkaro und so weiter. Ja, es kann gut sein, dass sie sich gleich wieder verabschiedet, kaum, dass man sich mit ihr hingesetzt hat, es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass sie schon nach zwölf bis fünfzehn Minuten mit dem Verabschieden anfängt, »Sorry, ich bin busy«, und dann lacht sie so, wie nur sie es kann, es ist also praktisch unmöglich, ihr böse zu sein.
Ihre Tage sind voll, das Gegenteil von »unterkomplex«, sie muss immer an sehr vieles auf einmal denken. Vor allem auch an das Wetter. »Im Freien ist es besser, das Licht ist schöner, außerdem mag ich es streetig«, sagt Mary-Marie. Sie ist immer angeschaltet und vollbringt vieles. Wenn sie durch die Stadt geht, über nassgeregnete Parkplätze oder an zugenagelten Kiosks vorbei, wenn sie eine absolut krank beleuchtete Fußgängerunterführung durchquert oder eine besonders breite Museumstreppe passiert, kann sie nicht anders, als im Kopf sofort sich selbst dort zu sehen. Wie sie sich da hinstellen könnte. Ein Bein vors andere gekreuzt, die Hände im Rücken gefaltet, leicht nach vorn gebeugt, den Kopf bisschen nach unten, aber so, dass man das glückliche Lachen noch erkennt. Sie könnte sich auch aufrichten und straight geradeaus schauen, editorial-streng, die Beine parallel nebeneinander und durchgedrückt, die Hände wieder zusammengenommen, diesmal aber vor ihrem Körper, und in den Händen könnte sie eine Bag halten, die einen unfassbar genialen Stilbruch markiert.
Mary-Marie studiert Kunstgeschichte, eh klar. Sie möchte einmal Kuratorin werden, und Leute, die dahinter eine Berufstätigkeit im Gesundheitswesen vermuten (»Kuratorin« wie »Kur-Anwendung«), nimmt sie hin, ist aber absolut nicht mit denen befreundet. »Mary Mellow« hat sie ihren Day-to-Day-Style-Blog genannt, weil »Mellow Kitty« schon eine Computerspielfigur heißt, und »Miss Marvelous« heißt schon ein Online-Shop für Schwangerschafts-Mode, und »Trust your taste« heißt – leider – eine Party-Reihe für schwule Männer in Brüssel.
»I found this vintage blue chiffon dress in my grandma’s closet, and I think it’s adorable«, schreibt sie zum Beispiel unter eine Bilderreihe, auf der sie aus allen vier Himmelsrichtungen zu sehen ist, mal in der Totalen, dann aber auch im Detail, mit einer Großaufnahme auf den Faltenwurf des blauen Kleides. Auf einem Bild schaut sie in den Himmel, beim nächsten hüpft sie wie ein Karussellkind über die Pfützen, beim übernächsten spielt sie mit ihren Fingern am Rocksaum herum, es wirkt absolut zeitlos, und in der Bildunterschrift gibt sie Bezugsquellenhinweise zu den Accessoires, »Shoes: . . .; Scarf: …; Belt: …; Stockings: …; Bag: …; Nail Polish: . . .«.
Und wieder regnet es Herzchen, von anderen glücklichsten Mädchen der Welt, die mit dem Betrachten und Liken und Loven allerdings kaum nachkommen, weil sie selbst so viel zu tun haben, mit Teilebersorgen und Stylesprobieren, mit Shop till you drop, Shooting-Organisation, Bilderauswahl, Bilderbearbeitung (minimal) und dem Anschauen ihrer selbst. Das macht auch Mary-Marie am liebsten, es ist wie eine Sucht geworden: Sie scrollt sich rauf und runter. Vor allem nachts, sozusagen statt zu schlafen. Sehr oft hängt sie für sehr lange Stunden vor ihren Bildern. Sie weiß, dass jeder in sie verliebt ist, und kann das nur zu gut verstehen.
Absolut logisch, dass Mary-Marie einen Boyfriend hat. Sie nennt ihn ihren »Boygrapher«, was sich aus »Boy-friend« und »Photographer« zusammensetzt. Wie er tatsächlich heißt, ist tendenziell unerheblich. Worauf es ankommt ist, dass er mit der Spiegelreflexdigitalkamera umgehen kann und dass er Zeit hat, vor allem auch spontan, etwa wenn die Wolkendecke gerade mal aufbricht und »das Licht, das Licht« so toll sich in die Straßen ergießt, dass es exorbitant gut zum ockergelben Cardigan und den Multicolor-Tweet-Pants passt, die Mary-Marie schon seit Wochen mal mit den rostroten Velours-Pumps kombinieren will.
Eine ursüße SMS-Code-Funktionssprache haben die beiden entwickelt, so dass er immer gleich weiß, wo sie ihn erwartet, und weil er mehrmals angedeutet hat, dass es ihm ein bisschen viel wird, mit der Zeit, hat sie sich zu einer gewissen Kompromiss-Technik bereit erklärt: Fotografiert wird nicht mehr nur ein Outfit pro Shooting, sondern, wenn es irgendwie möglich ist, gleich mehrere. Sie hat jetzt einen kleinen Rollkoffer immer so gut wie griffbereit gepackt, in dem drei oder vier brandneue Styles auf einmal lagern. Dadurch dauern zwar die Shootings etwas länger – das Umziehen, das Umfrisieren, der Location-Wechsel –, aber dafür hat sie dann gleich einen kleinen Vorrat für die nächsten Postings, so dass sie ihn nicht öfter als vielleicht so ungefähr zwei Mal in der Woche anfunken muss. Tim heißt der Boygrapher, warum soll man das eigentlich nicht erzählen?
Über Tim gibt es nicht besonders viel zu sagen. Er findet Mary-Marie schon toll. Aber das tun alle. Sie ist ja auch nicht doof. Auf Mäuschen kann er gar nicht. Er sieht auch selbst ziemlich gut aus. Das liegt an seiner Schläue. Er checkt die Dinge schnell. Er könnte jetzt nicht direkt erklären, nicht unbedingt auf wissenschaftlichem Niveau, warum diese Hosen taugen, jene aber nicht. Warum Button-Down-Hemden mit diesem und jenem gehen, mit anderem Zeug aber überhaupt nicht funktionieren. Er schaut einfach, was so ist, im Freundes- und Bekanntenkreis, seine Adaption-Skills sind optimal ausgebildet, er droppt die Vokabeln und hat noch nie verloren. Sein IQ liegt deutlich über dem Durchschnitt, und niemals würde er jemandem verraten, dass er gar nicht richtig weiß, was das alles soll.
Wenn er einen echt fatalistischen Tag hat, wird ihm manchmal ganz eng in der Brust. Dann denkt er, dass alle gleich aussehen, in ihren Flanellhemden und Fake-Fur-Boleros, Pencil Skirts und Dreiknopfanzügen, Polo-Shirts und römischen Sandalen. Statt all der »Art« wünscht er sich oft etwas wie »Wald« in sein Leben, findet das aber auch wieder doof an sich selbst und ist daher, insgesamt, eher ein ruhiges Temperament.
Irgendwann hat er damit angefangen, mit ihren Fotos herumzuspielen. In regelmäßigen Abständen morpht er Mary-Marie zu etwas anderem, ohne, dass sie etwas davon ahnt. Er macht sie zum Beispiel ganz, ganz fett, mit einer Bildverzerrungsapplikation. Er schneidet ihren Kopf aus und setzt ihn auf verschiedene Muskelprolljogginghosenkörper. Sein Lieblingsbild ist das, wo sie einen Kranz aus Flechtzöpfen im Nazimodus um ihren Kopf gewickelt hat und hellblaue Kulleraugen macht, Duckfacing in ironisch, und wo er ihr den Bart eines islamistischen Terroristen-Chefs auf den Mund montiert hat. Sehr oft, wenn er sie nackt sieht, wenn sie also miteinander vögeln statt miteinander zu arbeiten, denkt er an dieses Bild.
Er ist 26 und ein Boy, und er weiß genau, dass das eines Tages aufhört. Wenn es so weit ist, wird er Schluss machen mit Mary-Marie. Mary-Marie wiederum hat keine Zeit, absolut keine Zeit jetzt, denn ein bestimmtes Outlet-Paradies wird morgen ein paar Designer-Editions-Teile verkaufen, zu total genialen Preisen, bei einem Spezial-in-between-the-Seasons-Sale, und sie weiß noch immer nicht, welche gottverdammten, welche unmissverständlich aussagekräftigen Schuhe sie dazu tragen soll.