Barbara Vinken: „Mode ist barmherzig“

Erschienen im Oktober 2016 im Freitag.

Textilien kann man lesen und interpretieren wie Texte, sagt die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken. In ihrem Buch zeigt sie auf, was Kleidung so alles über Gesellschaften verrät

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Frau Vinken, wollen wir ganz unverschnörkelt ins Gespräch einsteigen? Ich werfe Ihnen ein paar Stichworte zu modischen Phänomenen hin, Sie geben spontane Kurzanalysen?

Gern.

Okay. High Heels.

Einen modischen Zwang dazu gibt es heute glücklicherweise nicht mehr. Ich finde aber, dass sie immer noch zu den notwendigen Waffen einer Frau gehören.

Notwendig – als Waffe?

Ja. Das wäre meine Kurzanalyse.

Hm. Vielleicht vertiefen wir das ja gleich noch. Bärte?

Bärte sind für mich primär Trauerzeichen. Im 16. Jahrhundert ließ sich Papst Julius II. zum Zeichen seiner Trauer über den Verlust der Stadt Bologna einen Bart wachsen. Das sollte zeigen: An etwas Frivoles wie eine Rasur war nicht zu denken. Ansonsten finde ich, dass Bartträger es zu nötig haben, ihre Männlichkeit auszustellen.

Die Burka.

Nun, ich finde wirklich nicht, dass es das schönste Kleidungsstück ist. Aber noch hässlicher ist der Hass auf die Burka und den Burkini. Die jüngsten Diskussionen darüber fand ich unerträglich. Dass man Frauen zwingt, bestimmte Kleider auszuziehen, ist genauso schlimm, wie sie zu zwingen, bestimmte Kleider anzuziehen.

Skinny Jeans.

Sind definitiv out. Wir werden wieder viel mehr Stoff sehen, weite Schnitte. Das Volumen kehrt zurück, für Frauen und Männer.

Granny Hair.

Das mag ich. Dass junge Frauen sich jetzt die Haare grau färben – interessant! Das erinnert mich an den Empire-Stil, an die Tudor-Perücken, die gepuderten Haare. Ich finde das sehr schön, dass Jugend jetzt keine Angst mehr davor hat, Alter als Stil zu tragen und das gegen den Jugendterror zu setzen.

Vor mehr als 20 Jahren haben Sie Ihr erstes Buch zum Thema veröffentlicht, „Mode nach der Mode“ hieß es. Ein Aufsatz daraus findet sich jetzt in Ihrem neuen Buch wieder. Sie denken darin über eine Jackenkreation des Designers Martin Margiela nach. Es ist faszinierend, wie Sie dieses Kleidungsstück analysieren, interpretieren – als ob Sie diese Jacke lesen, so wie man einen Text liest.

Das ist schön beschrieben. Ja, ich sehe mein neues Buch als eine Blütenlese. Ich habe versucht, die Diskurse über Mode zusammenzuführen. Viele Klassiker sind dabei, etwa Rousseau, Nietzsche, Baudelaire, Freud, Simmel. Das Denken über Mode ist dabei von Kultur zu Kultur verschieden. Im protestantisch reformierten Deutschen geht es sehr kritisch zu, Mode wird da meist als Ärgernis betrachtet, als weibischer Luxus, überflüssig und politisch kontraproduktiv – da Mode als antirepublikanisch galt, als fest mit dem Tyrannischen verbunden. Im Französischen wird Mode dagegen zum Paradigma einer modernen, weil antiidealistischen Ästhetik des chocs, des Hässlichen, des Verrückten.

Zu jedem historischen Text haben Sie eine kurze Einordnung geschrieben. Wie sind Sie als Literaturwissenschaftlerin zur Mode gekommen? Eigentlich ist sie ja ein soziologisches oder kunsthistorisches Thema.

Ja, das war gewissermaßen ein Raubzug von mir. Ich finde es wichtig, die Mode nicht nur historisch-soziologisch, sondern auch ästhetisch zu betrachten. Man kann Textilien tatsächlich genauso lesen wie Texte. Kleider haben eine historische Mehrschichtigkeit, sie spielen mit Zitaten. Manieristisch im Gegensatz zu klassisch zum Beispiel: Ein Stil ist immer eine Weltsicht. Genau wie die Literatur arbeitet die Mode mit einem vorgegebenen Vokabular, hängt von Gemeinplätzen ab – um diese zu unterlaufen, als Kommentar in Kleidern über Kleider. Nehmen Sie die Geschlechterrollen: Die wurden immer über Kleidung angeboten.

Ja eben, die High Heels! Die eigentlich immer unbequem sind. Und in denen man nur schlecht vor einem Vergewaltiger weglaufen kann – wie es Alice Schwarzer sinngemäß einmal sagte.

Na ja, im Normalfall geht es ja hoffentlich nicht darum, wegzulaufen, sondern sich Gehör und Platz zu verschaffen, über den Sachen zu stehen. Dafür sind Absätze gar nicht schlecht, die ja im Übrigen aus der männlichen Kriegskleidung kommen. Kleidung stellt unsere Vorstellungen über das „richtige“ Mann- und Frausein eben auch aus – und macht sie damit lesbar und veränderbar. Ein gutes Kleidungsstück oder eine gute Kollektion hat ein ähnliches Raffinement wie ein Gedicht.

Ihre Textauswahl beginnt im Jahr 1714, mit einem Auszug aus der „Bienenfabel“ des Sozialtheoretikers Bernard Mandeville. Texte über Kleidung gab es aber schon in der Antike. Warum setzen Sie in der Aufklärung an?

Ich habe überlegt, ob ich mit einem Text von Tertullian einsteige, einem christlichen Kirchenvater, der sich für die Verschleierung der Frauen aussprach. Aber dann beschloss ich, mich auf die Moderne und Postmoderne zu konzentrieren. Bis zum Absolutismus gab es Kleidervorschriften, die nicht nur die Geschlechter trennten, sondern auch die Stände. Nach der Französischen Revolution blieb bis heute nur noch eine Grundopposition in der Mode bestehen: die von männlich und weiblich.

Mit der Aufklärung wurde die Idee des Individuums wichtig. Sie zeigen, dass Honoré de Balzac im 19. Jahrhundert dann der Erste war, der über Lebensstilfragen nachdachte, fast so wie wir heute.

Die Aristokratie sammelte Kuriositäten, repräsentative oder exotische Möbel, kunstvolle Einzelstücke zum Vererben. Balzac sagt, dass die Dinge nicht mehr nur zum Bewundern da sein sollen, sondern zum täglichen Gebrauch. Ihm geht es eher um das Frische, Neue, als um das Perfekte, Extraordinäre. Das ist der moderne Entwurf von Bürgerlichkeit. Der wichtigste Sprechakt des Bürgers wäre nach Balzac vielleicht mit élégance oder simplicité zu beschreiben: Man darf und will sich schmücken, aber es darf auf gar keinen Fall auffallen, es muss völlig natürlich wirken. Da steckt schon der ganze Distinktionsfuror drin, den Georg Simmel wenig später beschrieb und der uns bis heute umtreibt: Das Individiuum will sich von anderen abheben – aber es will in seine Klasse eingebunden bleiben.

Was halten Sie von der „Standard Bag“ von Andreas Murkudis: Ein großes, weiß-rot-schwarz kariertes Modell, das man eigentlich als Einkaufstasche aus Kunststoff kennt – „als Polen- oder Türkenkoffer“, wie es in der Werbekampagne heißt. Nur dass diese Modetasche aus Leder ist und sicher über 1.000 Euro kostet.

Nein, so teuer ist die nicht, die bekommt man schon für um die 700.

Für sehr viel Geld jedenfalls. Ist das nicht extrem zynisch?

Nein, das sehe ich anders. Es verweist auf das integrative Moment der Mode, auf ihre Barmherzigkeit.

Wie bitte?

Bei den weiten Baggy Trousers, die sich an den Gefängnishosen aus den USA orientieren, war es dasselbe wie vorher bei der Jeans, der Arbeiterhose: Wenn so etwas in Mode kommt, finde ich nicht, dass es um Enteignung geht, sondern um das Anziehen des Anderen. Das hat etwas Demokratisches, etwas Solidarisches, ja etwas Liebendes. Es ist ein freundlicher Akt, wenn man etwas am eigenen Körper trägt, das sonst den Armen oder Unterdrückten als solchen stigmatisiert

Das ist aber ein sehr milder Blick.

Finden Sie?

Ja. Was Unterdrückung angeht, zeigt Ihr Buch auch: Obwohl Mode lange Zeit als „unmännliches“ Sujet galt, hatten Frauen über Jahrhunderte nichts zu melden. Der erste Mode-Text von einer Frau, der in Ihrem Band auftaucht, stammt von 1936.

Von Helen Grund, die versuchte, zwischen der modernen, weltoffenen Modewelt in Paris und der „deutschen Frau“ zu vermitteln. Ab den späten 30er Jahren gab es nichts mehr von ihr zu lesen. Die Nazis hatten begriffen, was heute noch gilt: Mode ist hochpolitisch.

Zur Person: Barbara Vinken, Jahrgang 1960, lehrt als Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In ihren Büchern und Essays beschäftigt sie sich hauptsächlich mit Fragen der Ästhetik und der Geschlechterrollen. Soeben hat sie die pralle Textsammlung „Die Blumen der Mode“ (Klett-Cotta) herausgegeben.

Die Blumen der Mode. Klassische und neue Texte zur Philosophie der Mode Barbara Vinken, Klett-Cotta 2016, 550 S., 49,95 €