Berlin: Wahlakt der Verzweiflung

Am 10.2.2023 erschienen bei ZEITonline

Unsere Autorin hat eigentlich ein Faible für Rot-Grün. Doch die Hauptstadt ist so dramatisch schlecht regiert, dass sie nicht weiß, wo sie ihr Kreuz machen soll.

Stell dir vor, es ist Pannenwahlwiederholung und du gehst hin. Weil du die Demokratie so magst. Weil du einen ungeheuer großen Zivilisationsgewinn in ihr siehst. Weil du weißt, dass Menschen an allen möglichen Enden der Welt in den Knast gehen oder ihr Leben lassen für diese kostbare Möglichkeit: an einer freien, fairen Wahl teilzunehmen.

Und so spazierst du, ganz ergebene Staatsbürgerin, durch dein Viertel zum Wahllokal. Und eigentlich hast du auch schon im Kopf, wen du wählen wirst, zumindest in welche Richtung es bei dir gehen wird, und welche Parteien auf keinen Fall mit deiner Stimme rechnen dürfen. Weil menschenverachtendes Zeug aus ihren Reihen kommt. Weil sie eher die Interessen sogenannter Anleger vertreten als die Anliegen derer, die den Mehrwert mühsam erwurschteln und hinterher auch noch den Dreck wegputzen. Man könnte also sagen: Du bist im Grunde bestens vorbereitet auf deine Stimmabgabe.

Dann verläufst du dich erst mal. Du hast die Wahlbenachrichtigung nicht richtig gelesen. Hast kurz vergessen, dass die Grundschule, die jahrelang als Wahllokal diente, seit einer Weile geschlossen ist, wegen Komplettverschimmelung. Die Kinder werden mit Bussen auf andere Schulen verteilt, was wohl nicht so richtig gut klappt, von „Empörung“ und „Erschöpfung“ sprechen Eltern und Lehrpersonal.

Rollkoffer reloaded

Auf dem Weg zum Ersatzwahllokal kommst du an einer der in der Lokalpresse oft erwähnten „Schrottimmobilien“ vorbei. Ein von außen recht hübsch und solide wirkendes Gründerzeitensemble mit Seitenflügeln und vier, fünf Etagen. Aber das Haus steht leer. Wo alle doch so verzweifelt nach Wohnraum suchen, gerade im Stadtstaat Berlin, in dem die Mieten zuletzt so stark gestiegen sind wie kaum irgendwo sonst im Land. Die Leute in der Bezirksverwaltung sagen den Zeitungen, sie bemühten sich, aber der Besitzer sei schwer zu erreichen. „Nun ja“, denkst du. Es handelt sich um einen Arzt, der in Brandenburg praktiziert, das hast du sehr leicht im Internet herausgefunden. So verschimmelt nach und nach auch das Sperrholz, mit dem das schöne große Wohnhaus verrammelt ist – seit nunmehr einem halben Jahrzehnt.

Dabei gehört dein Viertel zu einem sogenannten Milieuschutzgebiet, in dem günstiger Wohnraum erhalten und gefördert werden soll. Und wie du so weiterspazierst, wunderst du dich zum x-ten Mal, wie es sein kann, dass im Internet massenweise Ferienwohnungen in ebendiesem Viertel feilgeboten werden. Ab und an guckst du bei AirBnB, nur zum Spaß, und entdeckst all die mit Ikea- oder Poco-Domäne-Möbeln standardisiert eingerichteten Short-Time-Stay-Apartments in deiner Nachbarschaft.

Wie kommt es, dass es in der Bezirksregierung niemandem auffällt? Seit Kurzem annonciert sogar ein Anbieter, der sich gleich ein ganzes Haus am Rande des „Milieuschutzgebiets“ unter den Nagel gerissen zu haben scheint, auf der Hochglanzwebseite heißt es: „Our mission is that all our guests will feel at home in our apartments without missing the comfort of a classic boutique hotel.“ Es wird geschwärmt: „Berlin has its own pace, its own mentality and a distinctive energy„, und die Gäste könnten für ein paar Tage „a real ‚Berliner‘“ werden.

„Bäh“, denkst du dann und ekelst dich ein bisschen vor dir selbst, weil das Gentrifzierungsgenöle ja wirklich schon uralt ist, du kannst es nicht mehr hören und willst es nicht mehr singen, das Lied über den Sound der Rollkoffer. Du blaffst dich an: „Dann geh doch woanders hin!“ Und fragst dich: „Ja gern, aber wohin denn und von welchem Geld? Ich beziehe seit Jahren ein Berliner Gehalt, da bleibt nichts übrig zum Zurücklegen!“

Du kannst dich nicht so richtig entscheiden, worüber du dich bei diesem Staatsbürgerinnenspaziergang mehr aufregen sollst, über den weltberühmten Kapitalismus im Allgemeinen oder darüber, dass es fünf Monate gedauert hatte, bis die Berliner Behörden deinen Personalausweis erneuerten – was kein exaltierter Sonderwunsch von dir war, es ist halt deine Staatsbürgerinnenpflicht, 50 Euro kostet dich das. Und in Berlin eben zusätzlich: viel Geduld. „Wozu verwendet ihr eigentlich mein zwar bescheidenes, aber mühsam erarbeitetes Steuergeld, hier in diesem komplett bescheuerten Betondorf?“, denkst du. Und ermahnst dich sofort ein weiteres Mal: „Locker bleiben! Nicht zur Spießerin werden, Schatzi! So bist du doch eigentlich gar nicht – gell?“

Du rufst dir ins Bewusstsein, dass man in Berlin kreuz und quer durch die Gegend vögeln kann, mit allen erdenklichen Geschlechtern und Nichtgeschlechtern, und dass das, zum Beispiel, ein großer Vorteil dieses Ortes ist. Allerdings haben die halbwegs netten Dinge, die offen lebbare Geschlechtervielfalt, das große Angebot an „Veggie“-Waren (wer’s mag …), an Indie-Verlagen, Indie-Kinos, Indie-Sonstwas, an Podiumsdiskussionen und Clubkultur praktisch nichts mit der Politik zu tun – das veranstalten die Leute alles selbst, das alles ist sozusagen bürgerliches Engagement unterhalb der Institutionen.

Plötzlich fällt dir der Berliner Mietendeckel wieder ein, der für ein, zwei Jahre alle in der Stadt schier verrückt gemacht hat. Du denkst an all die Vermieter, die, kurz bevor der Deckel in Kraft getreten ist, noch schnell die Miete erhöht haben, auch und im Besonderen diejenigen, die vorher nie auf die Idee gekommen waren. Exakt so ist es jedenfalls bei dir gelaufen. Du erinnerst dich, wie der Deckel dann kam und wie deine Miete erst mal wieder ein bisschen gesenkt wurde und wie du kurz aufzuatmen wagtest. Und daran, wie wenig später das Bundesverfassungsgericht den Deckel in dieser Form für nichtig erklärte, weil er handwerklich zu schlampig gemacht war, hingehuscht, hingerotzt, „Berlin style“. Weshalb du, wie Hunderttausende andere, die Mietsenkung nachzahlen musstest, inklusive der zuvor durchgedrückten Mieterhöhung, sodass deine Miete nun, drei Jahre nach dem Deckel-Tamtam, um 20 Prozent höher liegt als vorher. „Thanks for nothing – or even less!“ denkst du, auf Englisch natürlich, und kickst wütend gegen eine der vollgeschissenen Matratzen, die an jeder zweiten Ecke in deinem Viertel liegen.

Die Ersatzwahlschule ist nun in Sicht, und du überlegst: Fehlende oder falsche Stimmzettel – Wahllokale, die auch nach 18 Uhr noch weitermachten – lange Warteschlangen, die etwa Alten und Kranken das Wählen erschwerten. Etliche demokratische Wahlprinzipien wurden in diesem Stadtstaat aufs Brutalste missachtet. Du denkst an Trump, die Erstürmung des Kapitols, die Wahllügenmärchen in den USA und in Brasilien, du denkst an die „Reichsbürger“, und findest es, in klaren Worten gesagt, zum Kotzen, wie nonchalant dieses Berlin die Gefahr des Vertrauensverlusts in die parlamentarische Demokratie kleinredet – wie man so tut, als sei die Pannenwahl bloß ein lässlicher Fauxpas gewesen, „Dit is Berlin, wa?“.

Bräsige Selbstbesoffenheit

Wären die Umgangsformen hier wenigstens wirklich nonchalant. Sind sie aber – bekanntlich – nicht. Du kannst das preußische Gebell kaum noch ertragen, nichts, aber auch gar nichts Herzliches ist daran. Immer wenn du mal für eine Woche an einem anderen Ort gewesen bist und nach Berlin zurückkehrst, tut es dir für ein paar Tage in den Ohren weh, sogar wenn du aus dem vollproletarischen und rasend schnell zerbröselnden Oberhausen zurückkommst, wo die Leute wahrscheinlich noch schlechter dran sind als viele in Berlin. Dort, in Oberhausen, geht es wesentlich gesitteter und wärmer zu. Die bräsige Berliner Selbstbesoffenheit ist noch viel übler als der saublöde „Et kütt wie’t kütt“-Kitsch in Köln und das dämliche „Hamburg, meine Perle“-Geseier an der Elbe.

Und du überlegst weiter: „Abgesehen von den Durchfallmatratzen und der Schimmelschule und der so-gut-wie-nicht-funktionierenden Verwaltung und dem „urban design“ in den Ferienwohnungen und meiner extrem gestiegenen Milieuschutzmiete: Das mit dem fahrlässig ins Lächerliche gezogenen Wahlvorgang ist nun wirklich nicht zu entschuldigen. „Ich lebe in einem failed state!“ Und du erschauderst bei diesem Gedanken und nickst heftig dazu, denn irgendwie ist es schon wahr.

Glücklicherweise ist es ja aber dein Wählerinnenrecht, ein Zeichen zu setzen – mit deinen Kreuzchen. „Wer auch immer in den vergangenen zehn, 20 Jahren hier am Ruder war, gehört abgewählt, das ist völlig klar, es ist eine Frage der Vernunft!“ Laut dröhnt dir das durchs Hirn, durch die Kapillaren und Arterien und alle Moleküle, als du dich der Eingangstür des Ersatzwahllokals näherst.

Auf den letzten Metern, bevor du deinen mühsam erbettelten Personalausweis vorzeigen musst, gehst du im Kopf noch mal durch, wer in Berlin seit Beginn des neuen Jahrtausends, seit 2001, das Sagen hatte. Und kommst auf folgende Faktenlage: Ein Jahr Rot-Grün. Neun Jahre Rot-Rot. Fünf Jahre Rot-Schwarz. Sechs Jahre Rot-Rot-Grün. Dir fällt sogar ein, wie der womöglich wichtigste aller Senate all die Jahre besetzt war, der Senat für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen. 1996 bis 2016: SPD. 2016 bis 2021: Die Linke. Seit 2021: SPD. Und du hast ebenfalls gespeichert, wer, ganz konkret, für deinen unmittelbaren Regierungsbezirk verantwortlich ist, wo die Wohnhäuser verrotten und die Ferienapartments erblühen. 2006 bis 2016: SPD. Seit 2016: Bündnis 90/Die Grünen.

Wie es dann letztlich weiterging, ob du die Schwelle zur Wahlkabine tatsächlich übertreten und deine Kreuzchen noch auf die Zettel gesetzt hast, aus Verzweiflung vielleicht bei der Tierschutzpartei, bei den Urbanen oder der Menschlichen Welt, oder ob du einfach ein paar ketamin-debil grinsende Smileys draufgemalt hast, daran wirst du dich nicht erinnern können, einige Jahre später, nachdem du im Lotto gewonnen hast, und endlich, endlich woanders wohnst, irgendwo, wo es ein Meer in der Nähe gibt und die Menschen freundlicher zueinander sind.