ES IST UND BLEIBT: LIEBE

Am liebsten würde ich alles gerade noch einmal ganz von vorn erzählen: Wie es einmal anfing (generell und eines Tages dann auch bei mir). Wie es weiterging und bis heute läuft. Was es bedeutet (für andere, für mich). Wie es also ist – wie es sich anfühlt.

Aber: Längst habe ich das ja schon aufgeschrieben! Sogar zweimal! Erst im Rolling Stone-Magazin (2009) und später noch einmal in der Wochenzeitung der Freitag (2017).

Huch? Worum geht es denn eigentlich?

Um den NORTHERN SOUL.

Der NORTHERN SOUL ist, stark verkürzt gesagt, ein Musik-Genre. Ein bestimmter Sound und Stil, der in den 1960er Jahren in den USA wurzelt, in den 1970ern in UK (wieder) ausgegraben wurde, seither ungebrochen seine Anhängerinnen und Anhänger hält und dazugewinnt, dies- und jenseits des Atlantiks, auch in Japan und anderswo, und mit dem vieles verbunden ist: eine spezielle Art zu tanzen zum Beispiel. Für manche zählen auch gewisse Kleidungsstücke und/oder Gewohnheiten dazu. Andere sprechen sogar von einer spezifischen Subkultur, die sich damals, vor einem halben Jahrhundert, um jene Musik gebildet hat und auch heute noch vital fortbesteht – wenn auch von Anfang an in einer Nische – nie sonderlich laut, nie breit bekannt (jedenfalls nicht hierzulande).

In den 1980er Jahren, als ich 16, 17 war, habe ich diesen Begriff im Nachtleben erstmals aufgeschnappt: NORTHERN SOUL. Schüchtern, weitgehend ahnungslos begann ich mich an die Sache heranzutasten, mit der Hilfe von etwas älteren Freunden, die schon tiefer drinsteckten, mit dem Tauschen selbstaufgenommener Musikkassetten, dem Studium fotokopierter Fanzines aus legendary England – so gut es eben ging („Wir hatten ja so gut wie nichts, damals!“ – also: Das Internet war halt noch nicht erfunden.)

1990 war dann das Jahr für uns, den NORTHERN SOUL und mich. I fell in love, deeply, passionately und, wie sich mittlerweile herauskristallsiert: womöglich forever.

Etwas verwunderlich finde ich das manchmal schon. Insbesondere, wenn ich mich in die 20Jährige zurückzuversetzen versuche, die ich einmal war. Wie es einmal jenseits der 30 bei mir aussehen könnte: Dafür hatte ich, wie wohl die meisten Postadoleszenten, kaum ein Bild. Ganz sicher war ich nicht davon ausgegangen, dass ich auch mit 55 noch am selben Haken hängen würde wie mit 20 – am NORTHERN SOUL eben. So sah ich damals aus:

Rechts daneben sehen sie die Platte – die Platte aller Platten – meine erste WIRKLICH KOMPLETT TOTAL ECHTE Northern-Soul-Single. 1990 kam sie zu mir. Seither haben sich mehrere Hundert Soul-Scheiben hinzu gesellt, zwischen 400 und 500 Stück umfasst meine Sammlung mittlerweile, nicht alles lupenrein als „Northern Soul“ definierbar und manches auch als Re-Issue, günstigere Nachpressung erworben – nichts, was eine Profi-Sammlerin beeindrucken würde. Aber … dennoch: ein kleiner Schatz ist da schon zusammengekommen, würde ich sagen. That’s at least how it feels for me.

Diese Scheibe, dieses Lied (von 1968) ist und bleibt jedoch das Schlüsselding für mich. Es enthält alles, alles, alles, was NORTHERN SOUL (für mich) ausmacht: den Beat, das Tempo, die Sweetness, den „huhhuhu“- und „ahahah“-Chor, sogar ein paar Streicher (der Wirbel gegen Ende – aaawww!). So klingt’s:

Okay, okay, aber: Geht es auch etwas sachlicher? Können wir erst mal mal ein paar Basisinformationen klären, zum Beispiel für diejenigen, die eher Gothic-, Metal-, Elektropop-Fans waren oder sind?

Ja, das ist möglich. In den oben erwähnten beiden Texten habe ich versucht, die Angelegenheit einigermaßen anschaulich und übersichlich zu erläutern:

SINGLES, SCHWEISS UND PIROUETTEN heißt der Northern-Soul-Text, den ich 2009 für den Rolling Stone schrieb, er beginnt wie folgt:

Mit dem Soul ist es einfach: Entweder man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Der Soul heult und jubelt, ohne Rücksicht auf Verluste, er verhandelt Gefühle, ganz ohne Tarnung, ganz ohne Ironie. Motown ist für die meisten die Einstiegsdroge (…) >>> WEITERLESEN

Und fürs Feuilleton des Freitag verfasste ich 2017 eine Art Glossar, in der Rubrik A-Z, die erwartbarerweise mit dem Buchstaben A beginnt:

AArbeiterklasse: Als kürzlich 79 Menschen beim Brand im Grenfell Tower starben, dachte ich an Ian, der mit seiner Mutter in genau so einem Hochhaus wohnte. In den 1990ern hing ich oft mit ihm herum, als ich, direkt nach dem Abitur, nach London abgehauen war, um dort erst mal zu arbeiten (als Kellnerin). Wir waren uns bei einer Soul-Party im Hinterzimmer eines Pubs begegnet, er verdiente sein Geld auf Zuruf, als Kurierfahrer mit seinem Roller. Ian hatte sehr schlechte Zähne – und sehr viele Schallplatten (➝ Vinyl). Hunderte von Singles lagerten in seinem schmalen Jungszimmer. Dabei besaß er gar keinen Plattenspieler. Er sparte, um sich einen anzuschaffen und träumte davon, seine Schätze eines Tages vor Publikum aufzulegen (➝ DJ). „Soul is working class music“, erklärte er mir. Dank Ian habe ich früh – und ganz ohne Pop-Theorie – die Verbindung von Musikgeschmack und Klassenlage verstanden (…) >>> WEITERLESEN

Aha. Nun gut. Aber: Warum nun dieser Blog-Eintrag? Wieso ausgerechnet jetzt?

Berechtigte Frage! Haben wir es hier etwa mit einem Schub prä-seniler Sentimentalität zu tun? Handelt es sich um ein trotziges Aufbäumen gegen das sagenumwobene Älterwerden? Gar um einen nostalgisch verbrämten Früher-war-alles-besser!-Anfall?

Nein. Ich denke (hoffe) nicht. Zumindest kann ich sicher sagen, dass ich nicht die einzige fortgeschrittene Erwachsene bin, die sich just dieser Tage (wieder mal) verstärkt mit dem Northern Soul beschäftigt. Im Gegenteil: Es tut sich derzeit ganz schön viel in dieser Hinsicht.

Im Radio:

Der Musikjournalist und Buchautor Olaf Karnik (1962 geboren, also noch mal acht Jahre älter als ich!) hat diesen Sommer für den SWR ein sehr schönes Radio-Feature gebastelt, in dem u.a. erklärt wird, warum die Northern-Soul-„Szene“ gewissermaßen zeit- und alterslos ist – und dass da praktisch kein „früher versus heute“ existiert. Ein Klick auf das folgende Bild führt direkt zu dem wirklich schönen, knapp einstündigen Hör-Essay:

Zwischen zwei Buchdeckeln:

Aktuell kommt jetzt auch noch dieses Buch dazu: der Roman STRANDGUT des (mehrfach preisgekrönten) britischen Autors Benjamin Myers, kürzlich im Dumont Verlag auf Deutsch erschienen (Foto: R. Saker/Dumont):

Noch ein alter Mann (Jahrgang 1976) also, der sich nun gerade mit dem Northern Soul beschäftigt. In STRANDGUT erzählt Myers die fiktive Geschichte von Earlon „Bucky“ Bronco, eines um-die-70-jährigen, längst vergessenen und ziemlich verarmten ehemaligen Soul-Sängers aus den USA, der zu seiner eigenen Verblüffung plötzlich in eine britische Kleinstadt eingeladen wird, als umjubelter Stargast bei einem Northern-Soul-Weekender.

Literarisch betrachet, würde ich den Roman mit dem Attribut „naja, so lala“ bewerten. Über die Story an sich freue ich mich aber – vor allem, weil sie recht realistisch erzählt ist, auch wenn sie auf Uneingeweihte reichlich märchenhaft wirken mag. In der Tat kam und kommt es immer wieder mal vor, das Northern-Soul-Fans (vor allem in Europa, manchmal auch in Japan) eine irgendwo in den USA noch lebende Legende des (Northern) Soul ausfindig machen und sie zu einem Festival oder Einzelkonzert einladen.

Dadurch konnte ich in den frühen 1990ern z.B. dem Agent Double-O-Soul Edwin Starr (1942-2003) einmal persönlich „Hello, I appreciate your music very much, Sir!“ sagen und ein Autogramm von ihm einheimsen.

Und zuletzt, im Januar 2020, konnte ich Dean Parrish (1942-2021) live im Berliner Hip City Soul Club erleben, einen Vertreter des Blue-eyed-Soul, ein weißer Sänger also, der den entscheidenden Sound drauf hatte. (Im oben verlinkten Radio-Feature erzählt der Hip-City-Soul-Club-Gründer Marc Forrest, wie es zu jenem Dean-Parrish-Auftritt in Berlin kam.)

In der Zeitung:

Auch in der taz war unlängst etwas über den Northern Soul und seine schiere Unverwüstlichkeit zu lesen. Julian Weber schrieb den Text und erklärt darin auch, wie diese Musik nach Deutschland kam (dank Gerald Hündgen und Clara Drechsler – merken Sie sich diese Namen). Ein Klick aufs folgende Bild, und Sie können’s lesen:

Legendär ist und bleibt auch der Text, den der britische Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Paul Mason (Jahrgang 1960) 2014 im Guardian veröffentlichte, eine Skizze seiner Northern-Soul-geprägten Jugend in Nordengland. Ein Klick aufs folgende Bild führt direkt dorthin:


In „Heatwaves“ …

wellenförmig*, spült es den Northern Soul und mich nun seit ca. vierzig Jahren immer mal wieder auseinander – und dann wieder näher zusammen, wie zur Zeit.

(* = Heatwave heißt ein Motown-Hit von Martha Reeves & The Vandellas aus dem Jahr 1963, ein typischer Einstiegsdrogensong, würde ich sagen.)

Immer mal wieder hatte ich über die Jahre die Gelegenheit, einige meiner Platten irgendwo vorzuspielen, in einem Club oder einer Bar aufzulegen, wie es handwerklich korrekt heißt – selten – was auch richtig so ist, denn andere Leute (mittlerweile auch etliche Frauen, juhu!) haben ein viel umfangreicheres Northern-Soul-Vinyl-Repertoire, da kann ich nicht mithalten. Außerdem ist mir das Tanzen letztlich doch lieber als das Auflegen. Ist wirklich so! Der noch intensivere Rausch!

Das folgende Foto zeigt eine Momentaufnahme von einer durchtanzten Northern-Soul-Nacht im früheren Hip City Soul Club in Berlin. (Jene Veranstaltung fand ca. 20 Jahre lang im extrem britisch ausgestatteten Hinterzimmer des Oscar-Wilde-Pub in der Friedrichstraße statt, in einem Gebäude, das nun seit Jahren schon als Spekulationsruine leer steht.) Das Foto habe ich irgendwann mal bei Facebook gefunden und auf meine Festplatte gezogen – es ist von sehr schlechter Qualität – doch ich liebe es – weil es so knallecht ist. Ein Schnappschuss, laut Kameradaten am 14.03.2010 um 02:16 Uhr aufgenommen, aha. Von wem, weiß ich nicht. Mein Kopf wabert da im dancefloor-Vordergrund durchs Bild, und wesentliche Teile des Gastgebers Marc Forrest sind im Hintergrund, an den turn tables, zu sehen:

Noch ein vielsagendes Bild: Eine amerikanische Freundin und ich bei einer gängigen Northern-Soul-Tätigkeit, dem record browsing, auch vinyl hunting genannt, aufgenommen 2011 bei Blue Arrow Records in Cleveland/Ohio:

Kurz danach oder davor durchwühlte ich die Kisten im mittlerweile so gut wie weltberühmten Laden Peoples Records in Detroit/Michigan. Dort fotografierte ich die Wand aus Plattenkisten, die ganz oben, zu Beginn dieses Blogeintrags zu sehen ist – und den Ladeninhaber, Soul-Kenner und -DJ Brad Hales hinter seiner Kassentheke (ein sehr sympathischer Mensch, der ebenfalls im oben verlinkten Radio-Feature vorkommt):

So! Eine schamlose Schwärmerei ist das hier jetzt wieder geworden.

Ja – UND?

Mindestens drei, vier Jahre ist es her, dass ich zuletzt zum Soultanzen aus war. Das schöne Radiofeature, der oben erwähnte Roman und der taz-Text zum Thema haben mich jetzt aber wieder mächtig angefixt – was sich dergestalt äußert: Für den nächsten dicken, fetten, international besetzten SOUL WEEKENDER in ein paar Monaten (4 Tage und nicht in Berlin) habe ich soeben alles gebucht, Hotel, PiPaPo, check check – und habe mich bereits mit anderen fortgeschrittenen Erwachsenen aus anderen Städten verständigt, die ich von vergangenen Soul Venues kenne, manche schon seit Jahrzehnten, und die ebenfalls zu jenem Weekender fahren werden. Juhu!

Wenn der dancefloor dann eröffnet wird (ich bin schon gespannt, mit welchem Song!) werde ich schier unfassbare, mir selbst gänzlich unbegreifliche 55einhalb Jahre alt sein (keine Ahnung, wer sich diesen Witz ausgedacht hat – aber es ist so!). Und die Leute um mich herum, Tänzer, DJs, Plattenhändler, werden wohl wieder einmal so zwischen 22 und 72 sein – ganz normale Leute mit außerordentlich gutem Geschmack – deshalb fühle ich mich in jener Umgebung so wohl.

Zum Ende dieser SCHMACHTARIE spiele ich Ihnen jetzt noch vier Northern-Soul-Klassiker und ewige Lieblingslieder von mir vor. Und verabschiede mich mit dem international gebräuchlichen Northern-Soul-Gruß: KEEP THE FAITH!

Immer die Ihre: KK

Vier große Kunstwerke (keins länger als drei Minuten):

Kunstwerk No. 1: Recht schnell und supersweet – mit Streichern – und „dududuuuu“-Chor – und perfekter Klimax – die komplette Northern-Soul-Magie in 2:42 Minuten:

Kunstwerk No. 2: Ein etwas elegischeres Juwel aus dem Midtempo-Segment, eine „blue-eyed“-Variante (weiße Sängerin) auf einem Major-Label veröffentlicht – nichtsdestotrotz fantastisch – und auch hier wieder: die Klimax, die Klimax! 2:45 quasi überirdische Minuten:

Kunstwerk No. 3: Ein weiteres Midtempo-Meisterwerk – nicht um Liebe, sondern um Geld geht es hier, und zwar um fehlendes Geld (eh klar) – eleganter als in diesen 2:36 Minuten ist die Hölle der Existenzangst wohl kaum zu besingen:

Kunstwerk No. 4: Und dies hier beschert mir jedes Mal Extragänsehaut – seit dem ersten Hören schon, seit vierzig Jahren straight – es ist so toll, dass ich vor lauter Ergriffenheit immer gar nicht so richtig dazu tanzen kann und ungelenk herumstolpere – vielleicht liegt das bloß daran, dass es so irre schnell ist – vielleicht aber auch, weil es zugleich so traurig, so verzweifelt ist – und dabei aber so leicht und so flirrend … – drei Minuten Zauberkraft:

Ende.

KATJA KULLMANN
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