VALHALLA – HEISST ES JETZT

Guten Tag. Oben sehen Sie das Plakat zum Film CIVIL WAR , der 2024 in den Kinos lief, nach einem Drehbuch und unter der Regie des Briten Alex Garland. CIVIL WAR – hier der Trailer – spielt in den USA, in einer fiktiven (noch fiktiven?) Gegenwart. Maschinengewehrmänner in paramilitärischer Montur (im Film ist völlig unklar, wer auf wen Jagd macht, warum genau und auf wessen Geheiß) setzen Zivilisten fest und erschießen sie, ohne jegliche Erklärung, „einfach so“.

Nachdem ich den Film gesehen hatte (vergangenes Jahr), schlich ich arg verstört aus dem Kinosaal, aufgewühlt und wie benebelt von all der Gewalt auf der Leinwand. Das Irritierendste an CIVIL WAR: Die aktuellen Gegenwarts-USA sind in dem Film klar zu erkennen, der Alltag, die Leute, die News-Landschaft, das Weiße Haus – ohne, dass aber eine bestimmte Partei, ein bestimmter TV-Sender, eine bestimmte politische Richtung benannt wird. Alles ist namenlos, gänzlich diffus, sozusagen „frei erfunden“. Und doch erschien das Gezeigte schon vor einem Jahr gruselig naheliegend, beinahe schon real – so, als ob irgendjemand nur noch einen bestimmten Schalter ein ganz kleines bisschen weiter in die eine oder andere Richtung drehen müsste, damit ein CIVIL WAR, ähnlich wie im Drehbuch, auch in der Wirklichkeit ausbricht.

Von Tag X, dem nahenden Ausbruch eines Bürgerkriegs, schwadronieren dies- wie jenseits des Atlantiks einige ja nur zu gern, seit Jahren schon (etwa im Lager der sogenannten Reichsbürger).

Jetzt hat die Ermordung des US-amerikanischen Polit-Influencers, Podcasters und Trump-Vertrauten Charlie Kirk (vor sechs Tagen) die Furcht vor einem veritablen Bürger-Krieg in den USA noch einmal erheblich gesteigert, wie es scheint. Nicht nur auf allen möglichen Social-Kanälen kursieren Rache-Aufrufe. Auch der politische Apparat, in Gestalt der Trump-Administration, kündigt Vergeltungs-Maßnahmen an – nicht „nur“ gegen den Einzeltäter (der sich letztlich selbst gestellt hat bzw. von seiner Familie an die Polizei übergeben wurde – wenngleich das Trump-geführte FBI sich seit Tagen seines „großartigen Ermittlungserfolges“ rühmt), sondern gegen all jene, die von Trump-Seite aus als „radikale Linke“, „Antifa“, „Menschen auf der linken Seite“ bezeichnet werden, darunter Nichtregierungsorganisationen, sogenannte liberale Medien und Gruppierungen und Stiftungen wie etwa die Open Society Foundation des Milliardärs George Soros und die Ford-Stiftung (US-Vizepräsident Vance nannte diese beiden nun namentlich).

US-Bürger sind aufgerufen, diejenigen zu melden (bei den Behörden, bei den Arbeitgebern), die den Mord an Charlie Kirk öffentlich „feiern“ oder den Getöteten posthum „verunglimpfen“ – je nachdem, wie man entsprechende Äußerungen interpretiert. Und Nicht-US-Bürgern droht der sofortige Visa-Verlust, „sollten sie im Internet die Tat rechtfertigen“. (Alle Zitate sind z.B. in dieser deutschsprachigen News-Zusammenfassung nachzulesen.)

Was mich nun gerade annähernd fassungslos macht: Wie das sogenannte Narrativ der Trump-Administration zum Kirk-Mord beinahe ungebrochen in deutschen Medien übernommen wird – und damit auch weiter in die hiesige „Netz-Öffentlichkeit“ schwappt – wo der Hass (etwa auf die Nachrichtensprecherin Dunja Hayali, siehe weiter unten) aktuell eine extreme Erhitzung erfährt.

Bei all dem habe ich vor allem die Pressekonferenz der US-Ermittlungsbehörden im Sinn, die gut 30 Stunden nach dem Attenat auf Kirk im US-TV übertragen wurde, ich verfolgte sie live. Es sprach dort u.a. der von Trump eingesetzte FBI-Chef Kash Patel, der sich mit folgenden irritierenden Worten vom Ermordeten verabschiedete:

Schließlich, an meinen Freund Charlie Kirk: Ruhe nun, Bruder. Wir haben alles im Blick. Und ich sehe dich in Walhall wieder.

Irritierend erschien mir dieser Verweis auf Valhalla, das Jenseits in der nordischen Mythologie, nicht nur, weil Kash Patel recht offensichtlich ein nicht-weißer, nicht-nordischer Mensch ist (Sohn indischer Eltern, die lange in Ostafrika lebten, bevor sie als Migranten in die USA kamen) – hat er eine Konversion zum skandinavischen Ur-Glauben hinter sich? Oder interessiert er sich doch weniger für Religionsfragen und stattdessen umso mehr für die Schlagwörter der White-Supremacy-Bewegung, die er nun in seiner Funktion als US-Chefermittler sozusagen hochoffiziell in die Öffentlichkeit spült?

Und da wir gerade beim Stichwort „Religion“ sind: Wie passt es außerdem zusammen, dass Valhalla auf einen heidnischen Glaubenszusammenhang verweist – während Charlie Kirks Witwe und dessen Anhänger ihn nun doch als „Amerikas größten christlichen Märtyrer“ bezeichnen? War Kirk in Wahrheit ein Heide, ein Ungläubiger also, der nur zum Schein das christliche Kreuz an einer Halskette trug? Oder sind Jesus, Odin, die heilige Maria und die Walküren letztlich doch alles irgendwie eins?

Gut, ich räume ein: Der letzte Absatz ist nicht frei von Sarkasmus. Zugleich stelle ich diese Frage aber ganz ernsthaft: WANN und WO habe ich – haben Sie, werte Leserin, werter Leser – zuletzt einen hochrangigen Staatsfunktionär der sogenannten westlichen Welt vom germanisch-arisch-nordischen Walhall sprechen hören? Woran erinnert mich das noch mal… ? Und: Wie, zur Hölle, könnte ich mich gegen diese Erinnerung wehren, ich meine: Wie könnte ich sie ausblenden?

Okay – lassen wir die Gefühle weg, halten wir uns an die Ratio: Bei derselben Pressekonferenz verwendete der republikanische Gouverneur des Bundestaates Utah, Spencer Cox, für das Attentat auf Kirk den von jenem geprägten Begriff Wendepunkt („turning point for our country“, „turning point for us“) – ohne dabei auch nur einen Halbsatz auf den Doppelmord am Politiker-Paar Hortman (Demokraten) im US-Bundesstaat Minnesota zu verwenden. Dabei lag jenes Attentat – mit zwei Toten – gerade erst zwei Monate zurück.

Falls jemand die Details schon wieder vergessen hat: Parallel zum tödlichen Anschlag auf die Hortmans hatte der Täter ein weiteres Demokraten-Paar, John Hofmann und dessen Ehefrau, angegriffen und lebensgefährlich verletzt – beinahe hätte er also vier Menschen ermordet. Der 57 Jahre alte Hortman-Hofman-Attentäter war auf die Privatgrundstrücke seiner Opfer vorgedrungen, und er verfolgte unzweifelhaft ein politisches Motiv, wie die Ermittlungen schnell ergaben, in seinem Fluchtwagen befand sich eine Liste mit weiteren Namen aus dem Lager der Demokraten.

Von einem Wendepunkt in der US-Gesellschaft und US-Politik war nach den Hortman-Hofman-Attentaten im Juni dieses Jahres aber so gut wie nicht die Rede – jedenfalls nicht von Seiten der Trump-Administration. (Und den Trump-Anhänger, der zuvor einen Brandanschlag mit eingestandener Tötungsabsicht auf das Privathaus des demokratischen Gouverneurs von Pennsylvania, Josh Shapiro, verübt hatte, hatte Donald Trump lediglich als „whacko“, „Durchgeknallten“, bezeichnet.)

Um Missverständnissen vorzubeugen: Politische Morde verurteile ich (wie alle Morde) zu einhundert Prozent. Auch den Mord an Charlie Kirk. Es geht (mir) auch nicht um ein Aufrechnen, um ein tit for tat, um das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn oder Vergleichbares – nein, ganz bestimmt nicht.

Irritiert war/bin ich jetzt aber über folgendes: Auch in der hiesigen Berichterstattung wurde über den öffentlichen Mord an Charlie Kirk (wie gesagt: ein Influencer und Podcaster, kein politischer Amtsträger) ausgiebig berichtet, und das völlig zu recht – und meist mit dem Hinweis, die USA stünden nun erst recht an einem Scheidepunkt. Während der nur acht Wochen zurückliegende Doppelmord bzw. Vierfachanschlag auf demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker dabei fast genau so wenig Erwähnung fand wie in den mittlerweile komplett hysterisierten US-Medien (selbst bei CNN kamen die Hortman-Attentate jetzt nur sehr diskret in Nebensätzen vor).

Einfacher gesagt: Der jetzt aus dem Trump-Lager beschworene Wendepunkt war doch längst schon eingetreten! Auch bei Nancy Pelosi. Sogar bei Trump selbst. Und überdies – wenn ich also vor allem an deutsche Medien denke – auch in Europa, 2016 mit der Ermordung der Labour-Politikerin und Brexit-Gegnerin Jo Cox durch einen 52jährigen Rechtsextremisten, und 2019 mit der Ermordung des hessischen CDU-Politikers Walter Lübcke durch einen Mittvierziger mit ebenfalls rechtsextremem Hintergrund.

Warum übernehmen deutsche Medien jetzt praktisch unverändert die Trump’sche Wendepunkt-Rhetorik im Fall Charlie Kirk und stellen weitere raunende Vermutungen der Sorte Quo vadis Amerika? auf – anstatt noch einmal sehr deutlich, am besten megalaut darauf hinzuweisen, dass ähnliches schon seit einer ganzen Weile geschieht, und nicht nur in den USA? Dass sogenannte hate speech mitunter offensichtlich zu hate deeds führt: Hassrede provoziert Hasstaten. Charlie Kirk, der jetzt getöte Rechte, ist ein weiteres Opfer einer ganzen Reihe von Politmorden (die bislang an linken bzw Mitte-Politikern begangen wurden). Und – also – ja: Das kam mir in den hiesigen elektronischen Medien jetzt deutlich zu kurz – diese Einordnung, Einbettung, dieses Gesamthorrorpanorama.

Im Grunde unerträglich ist mir selbstverständlich auch wieder einmal die Bigotterie aus dem Trump- und MAGA-Lager: Dass Donald Trump himself schon im Wahlkampf zu seiner ersten Präsidentschaft mit Gewalt- und Waffen-Rhetorik kokettiert hat, ist ja hinlänglich bekannt, an den Sturm aufs Kapitol im Januar 2021 (fünf Tote) erinnern sich wohl die meisten noch ganz gut, unvergessen dürfte auch dieser Auftritt von 2016 sein:

Ich könnte mitten auf der 5th Avenue stehen und jemanden erschießen, und ich würde keine Wähler verlieren – okay?

Nachgerade irre jetzt aktuell auch die folgende … Schicksalsironie … oder wie soll man diese Tatsache nennen: Nur wenige Stunden nachdem Charlie Kirk, der glühende Verfechter des Rechts auf Waffen, vor laufenden Kameras erschossen wurde (während er gerade über Waffengewalt sprach), fand im US-Bundesstaat Colorado eine weitere Schulschießerei statt, die, laut Medien, an das „Columbine Massaker von 1999 erinnert“. Der 16 Jahre alte Täter trieb sich, ersten Ermittlungen zufolge, in Internetforen herum, die nicht nur Waffengewalt verherrlichten, sondern auch“Inhalte, die die Ideologie der Weißen Überlegenheit stützen“ („content backing white supremacist ideas“, wie es z.B. hier heißt). Doch dieses Highschool-Attentat ging im Charlie-Kirk-News-Komplex jetzt beinahe gänzlich unter.

Was hingegen – in Deutschland – nun gerade mächtig hochköchelt, ist der neu entflammte Hass auf die ZDF-Nachrichtensprecherin Dunya Hayali. Hayali war am Abend nach dem Kirk-Attentat als Moderatorin des zdf heute journal im Dienst und sagte zu dem Vorfall folgende Sätze (siehe Mediathek):

Wo soll das alles hinführen? Im Land der Meinungsfreiheit, den USA, scheint es immer weniger möglich zu sein, andere Meinungen auszuhalten oder dagegenzuhalten, ohne dass es eskaliert.

Sowie:

Dass es nun Gruppen gibt, die seinen Tod feiern, ist mit nichts zu rechtfertigen, auch nicht mit seinen oftmals abscheulichen, rassistischen, sexistischen und menschenfeindlichen Aussagen.

Ebenjene Sätze haben dazu geführt, dass Hayali jetzt (wieder einmal) mit Morddrohungen bombardiert wird und deshalb für eine Weile lieber aus der Öffentlichkeit zurücktritt, wie beispielsweise hier nachzulesen ist.

Was ich nun schon mehrfach im Sumpf, der sich Internet nennt, aufgeschnappt habe: die Theorie, der Charlie-Kirk-Mord könnte für das Trump-MAGA-Project2025-Lager in etwa das sein, was der Reichstagsbrand einst für die Nationalsozialisten war – das letzte große entscheidende GO!

Ach – warum, weshalb, wieso, FÜR WEN schreibe ich das alles hier auf?

Ich nehme an, dass Ihnen ohnehin die gleichen Dinge durch den Kopf gehen.

Fragen, die fast jedes Gespräch in meinem engeren und weiteren Bekanntenkreis seit Monaten prägen: Kann es sein, dass wir gerade live und in Farbe mitansehen, wie die legendäre älteste Demokatrie der Welt in den Faschismus kippt? Hat es sich SO auch vor 100 Jahren für die Menschen angefühlt – das Miterleben der Demokratievernichtung? Erster Schritt: Diskreditierung bzw Behinderung bzw. Ausschaltung der Intelligenz (Universitäten, Wissenschaft, Kunst). Zweiter Schritt: Übernahme der Medienmacht, gepaart mit Geschichtsumschreibung. Dritter Schritt: ….

Randanekdote noch: Vergangene Woche, am Tag nach dem Charlie-Kirk-Attentat, führte ich ein Video-Interview mit einem Wissenschaftler aus New York City (über ein weitgehend nicht-politisches Thema, es ging um Psychologie, mehr dazu demnächst). Am Ende der Konversation konnte ich nicht anders als herumzustottern, sinngemäß ungefähr so: Ich wünsche Ihnen alles Gute! Auch als US-Bürger! Ich meine … von Europa aus betrachtet … ist, das, was bei Ihnen da gerade alles passiert … beinahe wie ein déja vu aus den Geschichtsbüchern. Der New Yorker lachte auf, laut, aber nicht überheblich, eher: laut und voller Einverständnis. Dann brach sein Lachen abrupt ab. You may be right … , sagte er. Worauf wir beide nicht mehr weiter wussten. Worauf wir uns, sehr freundlich, sehr einander zugetan, verabschiedeten.

***

PS – Nachtrag einen Tag später (17.9.):

Ah – gerade lese ich in den News, dass der Demokrat Josh Shapiro (der oben im Blog-Beitrag vorkommt, bzw. der Brandanschlag auf ihn und seine Familie) ebenso erzürnt bis angekotzt ist von „Trumps Doppelmoral“ (wie es bei n-tv formuliert ist). Auszüge aus der ntv-Meldung:

Der Gouverneur von Pennsylvania, Josh Shapiro, hat scharfe Kritik an US-Präsident Donald Trump geübt. Shapiro, der im April selbst Ziel eines Angriffs geworden war, stellte klar, Gewalt müsse stets verurteilt werden – unabhängig davon, ob sie von links oder rechts ausgehe. Der Präsident habe diese „moralische Probe“ nicht bestanden, denn er verurteile Gewalt nur selektiv. „Und das macht uns alle weniger sicher.“

(…)

Shapiro brachte Kirks Ermordung mit dem Anschlag auf sein eigenes Leben in Verbindung. Politische Entscheidungsträger müssten alle Formen politischer Gewalt „klar und unmissverständlich“ anprangern. „Leider wollen einige, von den dunklen Ecken des Internets bis hin zum Oval Office, gezielt nur bestimmte Fälle politischer Gewalt verurteilen“, teilte Shapiro dann gegen Trump aus. „Es gibt einige, die diese selektive Verurteilung hören und sie als Freibrief für weitere Gewaltakte auffassen, solange diese zu ihrer Erzählung passt oder nur die andere Seite betrifft.“

KATJA KULLMANN
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