Der volle Furor in Echtzeit

Erschienen im Freitag im April 2016

Elfriede Jelineks „Wut“ an den Münchner Kammerspielen
Elfriede Jelinek verdichtet die Mordlust der IS-Terroristen und den Pegida-Hass zu einem Wahnsinnscocktail der „Wut“ (Uraufführung an den Münchner Kammerspielen, Regie: Nicolas Stemann)

Noch bevor die Schauspieler die Bühne betreten, noch bevor ein Mensch das erste Wort spricht, hat das Telefon seinen Auftritt. Es klingelt, kurz, aber eindringlich. Einige Zuschauer wenden suchend ihre Köpfe: Hat da etwa jemand vergessen, sein Gerät auszuschalten? Oder ist das schon Teil der Kunst, gehört das Klingeln „dazu“?

Gut dreieinhalb Stunden später, am Ende der Vorstellung, werden die Besucher verstanden haben, dass das Telefon, das Android oder das Tablet, das elendige „Display“ in all seinen Varianten die heimliche Hauptfigur in Elfriede Jelineks Wut ist. „Wir nützen alles aus, wir nützen die Foren, wir nützen das Netz bis zu seinen Grenzen aus“, heißt es im Text, „unser liebes Netz nimmt uns alle auf, wir lieben es.“

Es piept und blinkt also auch auf der Bühne, genau wie im richtigen Leben, immer wieder geht eine message oder ein shitstorm ein, ständig muss ein Video oder Bild kommentiert oder „geteilt“ werden, wie es heute heißt. Doch selbst der smarteste „Flachkopfschirm“ verrät nicht, wie ER aussieht – Gott, Allah oder der Prophet. Auch die Männer, die im Januar 2015 in Paris in der Redaktion von Charlie Hebdo und in einem koscheren Supermarkt 15 Menschen töteten, haben den Allmächtigen nie gesehen. „Aber andre haben, und die sagen, er schaut nicht so aus wie auf diesen Zeichnungen“: Daran halten sich die Attentäter fest – jedenfalls lässt Jelinek sie so sprechen. „Nicht viel mehr als wir sind die, kleine Männer, können halt zeichnen, aber das Falsche“, denkt das islamistische Terror-Wir, bevor es die Satiriker hinrichtet. Und: „Etwas treibt uns an. Wir sind die vielen, die sich gegenseitig bestärken, aber losziehen tun wir lieber alleine.“

Keine Absolution …

Tatsächlich waren die Charlie-Hebdo-Morde der Auslöser für die Wut der Literaturnobelpreisträgerin – für ihre eigene, persönlich empfundene Wut und für den gleichnamigen, ungeheuer starken und präzise gearbeiteten Text, mit dem sie unmittelbar nach den Attentaten vor gut einem Jahr begann und den Nicolas Stemann jetzt für die Münchner Kammerspiele inszeniert hat.

Es ist die fünfte Kollaboration zwischen Jelinek und Stemann, der seit der laufenden Spielzeit der Hausregisseur der Kammerspiele ist, geholt vom neuen Intendanten Matthias Lilienthal. Ein abwechslungsreicher, aber auch anstrengender Abend ist ihm und seinem siebenköpfigen Ensemble gelungen. Ein Abend ohne richtige Pause. Und, was manch einem noch ungemütlicher erscheinen mag: ein Abend, der sich weigert, dem zahlenden Publikum auch nur den Ansatz einer (Selbst-)Gewissheit zum gepolsterten Sitzplatz dazuzuliefern.

Jelineks Wut verstört – und nervt. Und das im besten, weil wirksamen Sinne. Ja, ihr dicht gestricktes Gegenwarts-Stakkato, ihr Hate-Speech-Sampling kann einen wahnsinnig machen. Und wenn man bis zum Schluss durchgehalten und sich nicht, wie etwa fünf Prozent des Publikums, davongeschlichen hat, selbst wenn man also wach ausharrt, um zu sehen, wie es ausgeht, gibt es keine Belohung. Der letzte Satz der Wut soll hier nicht verraten werden. Nur so viel: Nicht den Hauch eines Trosts oder einer Lösung bietet die Künstlerin an – keine Absolution, für niemanden.

Etliche Kritiker der Uraufführung warfen Jelinek und Stemann genau das vor: „Ungläubig, leer und ermattet“, sah sich etwa Hubert Spiegel von der FAZ zurückgelassen. „Und dann ging es irgendwie los und hörte tatsächlich irgendwann vor Mitternacht auf“, schimpfte Rosemarie Bölts im Deutschlandfunk und erkannte in Jelineks Stoff und Stemanns Inszenierung „viel Gewese um nichts“. Das Ulkige daran: Genau solch eine echauffierte Kritikerinnenwut, genau in diesem Tonfall geäußert, würde wiederum sehr gut in Jelineks Text passen.

In der Tat kann man ihre Wut nicht als „Stück“ im klassischen Sinne bezeichnen, es gibt keine klar zugeordneten Sprecherrollen. 142 Seiten fasse der Text, erklärt Stemann in einer Einführung vor der jeweiligen Vorstellung, der Abend sei als work in progress zu verstehen. Länger als vier Stunden werde es nicht dauern, zwischendurch werde er immer mal wieder ansagen, auf welcher Seite man sich gerade befinde.

Die Wut lässt Stemann von sieben Schauspielern in verschiedenen szenischen Aufstellungen sprechen und spielen. Es ist eine grandiose Ensemble-Leistung, aus der Julia Riedler allerdings doch deutlich herausragt, etwa als Jesus und als Jelinek herself. Mal plappert ein Empörungs-Pärchen auf dem Sofa deutschtümelndes Zeug. Mal hüpfen drei Techno-Girlies herum, aufgegeilt von der Sexyness der Dschihadisten und der Aussicht auf fünf bis acht Minuten Youtube-Ruhm, wenn sie sich zu Bräuten der Mörder machen. Die Girlies tänzeln um eine überdimensionierte Plüschkatze, der ein Sprengstoffgurt um den Leib geschnallt ist, und werfen Burkas über ihre Körper. Herakles, „der erste Amokläufer der griechischen Mythologie“ (Stemann) kommt vor, selbstverständlich auch die heutigen „Griechen, die nicht zahlen“ (Jelinek), und immer wieder rülpst ein kleiner dummer Chor sein „Wir sind das Volk!“ hervor.

… aber immer neue Updates

Die Bricolage ist Methode: Noch während Jelinek 2015 an ihrem Text saß und auch in den acht Münchner Probenwochen im Februar und März schrieb die Gegenwart den Stoff fort: im November neue IS-Anschläge in Paris, im März in Brüssel, derweil sterben auch in Afrika, Nahost und Asien weiterhin Menschen durch den Terror, und rechte, nach Nationalem und „Identitärem“ heulende Gruppen gewinnen europaweit an Zuwachs. Bei Jelinek, deren Text unter anderem Referenzen zu Klaus Theweleit und Milo Rau zieht, entstehen daraus hoch interessante Überblendungseffekte: So sind sich alte und neue Nazis – besonders solche, die sich als „zu kurz gekommen“ wähnen – mit den gehassten Islamisten in einem Punkt berückend einig: „Juden sind immer zu viele. (…) Wir haben nichts, und in Dunkel sind wir gehüllt, die aber, die Juden, stehen immer sofort im Licht. Dorthin stellen sie sich selber, sonst gibt es das ja nicht, daß man immer nur die sieht!“

So wie Jelinek im Text versucht, die Vielstimmigkeit der Gegenwart einzufangen und sie zu einem Sprachkristall zu verdichten, der alle möglichen Wechselwirkungen der Wut und des Hasses auffunkeln lässt, so bemüht Stemann sich darüber hinaus um ein je tagesaktuelles Update des Stoffes. Er schaltet sich als Rezitator ein, liefert – manchmal leider überdreht kalauernd – Querverweise zu den Panama Papers wie zur „Causa Böhmermann“. Er zitiert auch die ganz reale Bild-Schlagzeile des Tages: „Terror an unseren Ferien-Stränden geplant!“ Und er berichtet, dass wenige Abende zuvor an der Uni Wien sogenannte Identitäre eine Aufführung eines anderen Jelinek-Stücks, Die Schutzbefohlenen, gewaltsam unterbrachen. Dort standen auch Flüchtlinge auf der Bühne, die Rechten verspritzten Kunstblut und verstreuten Flugblätter: „Multikulti tötet“.

Ein Wahnsinnstext

Man kann das alles zu viel finden. Man kann sich an der Unaufgeräumtheit des Gezeigten stören und daran, dass der Abend eine eindeutige Antwort auf die Frage verweigert, wer ursächlich an allem schuld ist: die jahrhundertealte kolonial-kapitalistische Gewalt des Okzidents – oder doch die religiös getönte Brutalität des Orients? Was war zuerst da, Huhn oder Ei?

„Wie kann ich mich hineinversetzen in diese Mörder?“, heißt es im Jelinek’schen Bühnentext. „Ihr Inneres verstehe ich nicht, ihr Äußeres sehe ich nicht, obwohl es oft im Fernsehen war und ich nur sehe, was dort stattfindet. Das Äußerste kann das Innerste sein, aber das Innerste sieht man eben nicht. (…) Sie wollen richtige Menschen von mir? Dann müssen Sie sich an jemand anderen wenden!“

Eben dafür ist Jelinek zu verehren: Statt sich eine elfenbeintürmelnde Großdiagnose auszuschwitzen, lässt sie souverän dem Hier und Heute den Vorrang und fügt das Gehörte und Gesehene, noch während es geschieht, zu einem Wahnsinnstext zusammen, der einen exakt so beunruhigt in den späten Abend entlässt, wie es die Gegenwart erfordert.