„Die Menschheit braucht eine Stimme“

Erschienen im Oktober 2016 im Freitag.

Andreas Bummel kämpft mit der UNPA-Kampagne für ein Weltparlament, in dem alle Menschen die gleichen Stimmrechte haben. Seit Jahren engagiert er sich für eine Form des Kosmopolitismus, die vielen als utopisch erscheint: für eine echte parlamentarische Versammlung und freie Wahlen bei den Vereinten Nationen.

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Herr Bummel, darf ich Sie zuerst mal nach Ihren Papieren fragen? Können Sie sich als Weltbürger ausweisen?

Andreas Bummel: Sie meinen, ob ich einen Weltbürgerpass besitze? Aber ja. Seit einigen Jahren trage ich ihn mit mir herum. Ein Büchlein, es sieht fast aus wie ein deutscher Reisepass, mit einer laminierten Seite innen, auf der die persönlichen Daten stehen, und etlichen Blankoseiten für Visa.

Der Ausweis ist dunkelblau, auf die Vorderseite ist ein Globus gedruckt, und das Wort „Weltbürgerpass“ in sieben Sprachen. Jean-Paul Sartre, Albert Einstein und Julian Assange hatten oder haben einen. Ausgestellt wird er von der „World Service Authority“.

Ja, man kann den Pass im Internet bestellen. Der Name der ausgebenden „Authority“ ist etwas anmaßend. Es handelt sich um eine der vielen NGOs weltweit, die die Idee eines Weltbürgerparlaments auf unterschiedliche Art unterstützen. Der Pass ist bislang ja leider nur ein symbolisches Dokument.

Dennoch sollen manche Länder ihn schon akzeptiert haben, etwa Thailand und Nigeria. Hierzulande sind Sie der engagierteste Streiter für eine neue Form von Weltbürgertum. Sie kämpfen ganz ernsthaft für ein Weltparlament. Worum genau geht es da?

Um eine parlamentarische Versammlung der gesamten Menschheit. Oder, was zugegebenermaßen noch pathetischer klingt: um eine demokratische Vertretung der Menschheit. Die Idee dafür ist keineswegs neu, sie entstand zur Zeit der Französischen Revolution und erlebte ihren bisherigen Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Gründungsjahren der UNO. Die Welt war noch dabei, sich von den Verheerungen des Krieges zu erholen, ein solcher Wahnsinn sollte nie wieder passieren. 1947 formierte sich das World Federalist Movement, das bis heute besteht, mit vielen asssoziierten NGOs, und zu dessen frühen Fürsprechern neben Jean-Paul Sartre und Albert Einstein auch Albert Camus, Thor Heyerdahl und andere Intellektuelle zählten. Bis heute glauben viele Menschen, mit der UNO gebe es so etwas schon: eine internationale Versammlung, in der alle Menschen gleich repräsentiert seien. Das stimmt eben nicht.

Sondern? Wie verstehen Sie die UNO stattdessen?

Die UNO ist weder gewählt, noch hat sie wirklich Macht. Sie kann keine Gesetze erlassen, abgesehen vom Sicherheitsrat, der über Kapitel 7 der Charta Beschlüsse fassen kann, die bindende Wirkung für alle Mitglieder haben. Wobei dem Sicherheitsrat fünf ständige Mitglieder angehören, und diese haben bis heute das Veto-Privileg, das 1945 noch sinnvoll war, um die Großmächte zusammenzubringen und damals die Ur-Charta zu schaffen. Darin war allerdings verankert, dass es zehn Jahre nach ihrer Verabschiedung eine Überprüfungskonferenz geben sollte, ob die Strukturen und Gremien angepasst und auch für kleinere Länder erweitert werden. Aber diese Konferenz fand dann nie statt, die UNO funktioniert im Wesentlichen noch immer wie 1945. Zugespitzt könnte man sagen: Die Delegierten bei der UNO sind eine Art Lobbyisten-Club auf höchstem Niveau, Regierungsbürokraten einzelner Nationalstaaten – die dann ihre jeweiligen nationalen Interessen dort aushandeln, ohne dass die weltweite Bevölkerung in die weitreichenden Vertragsprozesse eingebunden wäre.

Aber dafür haben die Bürger doch ihre Regierungen gewählt?

Ja, aber die vertreten nur nationale Interessen. Etliche politische Fragen sind aber längst nicht mehr nationalstaatlich zu bewältigen. Nehmen Sie zum Beispiel das Klima. Nehmen Sie Rüstungsfragen. Oder die internationale Finanzwelt, die ohne effektive politische Regulierung agiert. Oder die großen Migrationsbewegungen. Solche Fragen betreffen alle Menschen der Welt, ganz unabhängig vom jeweiligen nationalstaatlichen Tagesgeschäft, ganz gleich, welche Interessen eine gerade irgendwo gewählte Regierung verfolgt. Klar gesagt: In den UN-Gremien ist das Menschheitsinteresse nicht vertreten.

Wie meinen Sie das?

Es gibt die völkerrechtliche Fiktion der souveränen Gleichheit der Staaten – und diese Fiktion kollidiert nicht nur mit der Wirklichkeit, sondern auch mit kosmopolitischen Grundsätzen. Die 193 Mitgliedstaaten sind in der Generalversammlung mit je einer Stimme ausgestattet – also mit einer Stimme pro Staat, nicht pro Kopf. Wenn man es rechnerisch betrachtet, können die 128 bevölkerungsärmsten Staaten in der Generalversammlung eine Zweidrittelmehrheit erreichen, auch wenn sie nur acht Prozent der Weltbevölkerung vertreten. Das klingt womöglich erst einmal gut, weil kleinere Länder auf diese Art einen gewissen Einfluss haben.

Ja, so klingt es in der Tat.

Aber es ist auch einer der Gründe, warum Big Player wie Russland, die USA oder Deutschland bis heute dafür sorgen, dass sie bestimmte Fragen von vornherein auslagern und an der UNO vorbei aushandeln. Es ist kein Wunder, dass Versuche zur Regulierung des Finanzsystems nicht dort besprochen werden, sondern bei den G20. Zudem sitzen in der Generalversammlung auch Diktatoren, die ihre Bevölkerungen nicht in einem demokratischen Sinn vertreten. Und es findet keinerlei Opposition statt, die hängt sozusagen in den Nationalstaaten fest. Unter- oder gar nicht repräsentiert sind Minderheiten. Nehmen wir nur die 350 Millionen Menschen, die indigenen Völkern angehören.

Gibt es für deren Belange nicht Sonderbeauftragte?

Die gibt es, das stimmt. Es ist aber ein demokratietheoretisches Problem. Die Indigenen machen fünf Prozent der globalen Bevölkerung aus, haben aber keine Stimme auf Weltebene, weil sie über Nationalstaaten verstreut leben, wo sie mal mehr, mal weniger diskriminiert werden. Sie müssten theoretisch alle erst einen eigenen Staat gründen, um Gehör zu finden. Dabei umfassen sie mehr Menschen als die 100 bevölkerungsärmsten Länder der Welt zusammen. Letztere haben 100 Stimmen in der UN-Generalversammlung – Erstere keine.

Wie müsste man sich so ein Weltparlament denn konkret vorstellen? Neben den regionalen, bundesweiten und, in unseren Breitengraden, auch den europäischen Wahlen alle vier Jahre auch noch Weltwahlen? Das klingt utopisch. Auch, dass die Staaten ihre Bürger für Weltwahlen sozusagen freigeben, ist kaum vorstellbar.

Erst mal geht es nicht darum, die Nationalstaaten abzuschaffen. Im Weltparlament soll es ausschließlich um globale Fragen gehen, um Entscheidungen, deren Konsequenzen Auswirkungen auf die ganze Menschheit haben. Das Klima ist das beste Beispiel. 2007 hat sich die Kampagne für ein Weltparlament formiert, die United Nations Parlamentiary Assembly (UNPA). Zu unseren Unterstützern zählte Ex-UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali. Er stellte treffend fest: „Wir müssen die Demokratisierung der Globalisierung voranbringen, bevor die Globalisierung die Grundlagen nationaler und internationaler Demokratie zerstört.“

Fast 1.500 heutige oder frühere Parlamentarier aus 120 Ländern stellen sich inzwischen hinter die UNPA-Ziele. Aus Deutschland ist Cem Özdemir dabei, aber auch Heiner Geißler und, worüber ich staunte: der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Die Mitglieder des Panafrikanischen Parlaments haben sich im Mai ebenfalls für Ihre Kampagne ausgesprochen und vor einigen Jahren auch das Europaparlament.

Ja, es gibt inzwischen eine ernstzunehmende überparteiliche Unterstützung. Vor allem geht uns nicht um Antiamerikanismus, wie manche Beobachter fälschlich annehmen. Einen starken Partner haben wir etwa in der Commission on Global Security, Justice and Governance, die von der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright und dem früheren nigerianischen Außenminister Ibrahim Gambari geleitet wird. Zu den 80 Empfehlungen dieser Kommission gehört immerhin die Einrichtung eines parlamentarischen Netzwerks bei der UNO.

Sie hören wahrscheinlich öfter den Vorwurf, das sei doch alles nur „Spinnerei“?

Lassen Sie mich zur Wirksamkeit der Weltbürgerbewegung etwas sagen: Eines der Hauptprojekte des World Federalist Movement war seit den 70ern die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs. Eine weltweite Koalition aus Menschenrechtsorganisationen hatte jahrelang darauf hingearbeitet, 1998 kam der Durchbruch in Rom, dort wurde das Statut für den Gerichtshof angenommen, obwohl es jahrzehntelang hieß, das wird nie möglich. Es war ein erster großer Erfolg für die weltföderalistische, kosmopolitische Strategie. Der nächste große Schritt ist die Weltdemokratie. Die, wie gesagt, keine neuartige Verstaatlichung bedeuten soll. Sondern schlicht die globale politische Integration befördern soll. Mit dem Ziel, dass alle Menschen dieselben Rechte haben, wenigstens was die Mitbestimmung über globale Fragen angeht – weil alle Menschen davon betroffen sind.

Ihr angestrebter Zeitrahmen?

Im optimalen Fall würden sich im nächsten Frühjahr repräsentative, also starke und glaubwürdige Regierungen in New York treffen und eine Freundesgruppe gründen, die innerhalb der UNO einen diplomatischen Prozess in Gang setzen würde, für eine Resolution. Das Ziel könnte sein, dass die Statuten 2020 verabschiedet werden.

Das klingt sehr ehrgeizig.

Im globalen Süden ist das Interesse, die Sache voranzubringen, wirklich sehr hoch, auch in manchen europäischen Regierungen, etwa der italienischen, gibt es eine Offenheit dafür. Der Widerstand in Deutschland ist von Regierungsseite jedoch groß. Der Bundestag hatte dem Auswärtigen Amt im Oktober 2015 einen Prüfauftrag erteilt, ob die Einrichtung einer parlamentarischen Versammlung bei den Vereinten Nationen zu unterstützen wäre. Außerdem sollten dazu Vorschläge unterbreitet werden. Aber da ist, soweit ich weiß, seither nichts mehr passiert. Frank-Walter Steinmeier müsste seine Behörde explizit dazu auffordern, endlich tätig zu werden. Ein starkes Land wie Deutschland als Fürsprecher zu gewinnen, wäre wichtig, um die Sache voranzubringen. Da haben wir es noch sehr schwer.

Der erstarkende Nationalismus allerorten und die ausgeprägte EU-Skepsis hilft Ihnen auch nicht.

Viele Menschen empfinden heute eine zweifache Zugehörigkeit, das zeigen weltweite Umfragen: einmal, Teil der Menschheit zu sein, einer Gemeinschaft auf diesem Planeten, mit der sie vieles teilen. Das kommt zur nationalen Identität hinzu. Auf der anderen Seite haben wir rechtspopulistische Demagogie, die Ängste und Fremdenfeindlichkeit schürt und einen kompletten Rückzug ins Nationale propagiert. Irgendwann wird sich herausstellen, in welche dieser Richtungen der Mainstream geht. Ich bin nach wie vor optimistisch. Wer rational über die wichtigsten politischen Fragen nachdenkt, sieht, dass national nicht mehr allzu viel auszurichten ist.

Andreas Bummel, 1976 in Kapstadt in Südafrika geboren, leitet als „Global Coordinator“ die „Internationale Kampagne für eine parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen“ (UNPA) Er begreift sich als „Weltbürger durch und durch“

Weltbürger Nr. 1 in Ex-Bomberpilot und Hollywood-Schauspieler aus der zweiten Reihe, der damals 26-jährige Garry Davis, trat in den 1940er Jahren als „Weltbürger Nr. 1 für ein Weltparlament ein. Das Morden im Zweiten Weltkrieg hatte den früheren Soldat der US-Airforce nicht mehr losgelassen. Im Sommer 1948 stellte er sich bei einer UN-Versammlung in Paris vor. Seinen US-Ausweis gab er mit großer Geste ab und zückte einen selbstgebastelten „World Passport“. Nötig sei ein Weltparlament, das die Freiheit und Souveränität jedes Einzelnen schütze, egal, wo er oder sie lebe, und vor allem: unabhängig vom „scharfen ökonomischen Wettbewerb“, der zwischen den Nationalstaaten tobe, sagte Davis damals. 2013 starb er im Alter von 91 Jahren. Die internationale UNPA-Kampagne (unpacampaign.org) führt Davis‘ Idee heute fort. Am 20. Oktober startet die Initiative eine globale Aktionswoche. Und am 11. November wird sie am „Vision Summit“ in Berlin teilnehmen, wo auch der Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus spricht