„Fetische gehören dazu“

Erschienen im Februar 2014 im Freitag 6/14

Frauen und Arbeit: Tatjana Turanskyj (1966-2021) über ihren neuen Film „Top Girl“, der in der Sex-Branche spielt

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Gleich vorweg ein Kompliment. Wenn man „Top Girl“ gesehen hat, kommt man ziemlich verstört aus dem Kino. In der Schlussszene liegen vier Frauen nackt auf einer Lichtung, wie abgeschossene Rehe – drumherum stehen fünf Männer mit Gewehren und singen das Lied vom Jäger aus Kurpfalz. Das ist also Ihr Kommentar zum Stand des Geschlechterkampfs?

Tatjana Turanskyj: Es ist eine stark stilisierte Szene. Die Männer haben die Frauen gejagt, in einer Sex-Spiel-Performance, outdoor, im Wald. Solche Jagden soll es tatsächlich gegeben haben, etwa nach dem Ersten Weltkrieg in Uruguay. Ex-Soldaten, auch deutsche, haben den Einheimischen Jungfrauen abgekauft und sie zu Tode gehetzt. Alain Robbe-Grillet hat darüber geschrieben. Im Film sind die Frauen „erlegt“, aber nicht tot. Sie liegen als Beute vor den Freiern, die im wahren Leben Werbetexter oder Versicherungsmakler sind. Aber es geht mir nicht darum, Männer nur als Täter vorzuführen. Die Frauen haben durchaus Macht. Sie haben dieses Spiel inszeniert, sie manipulieren oder beherrschen als Sex-Arbeiterinnen die Fantasien ihrer Kunden.

Tatsächlich agieren die „Top Girls“ in Ihrem Film als ihre eigenen Ich-AGs. Sie führen ihre sexuellen Geschäfte und wirken dabei in etwa so abgekocht – aber auch so erschöpft – wie ihre männliche Kundschaft.

Was ich generell interessanter finde als den Unterschied zwischen Männern und Frauen, ist etwas, das beide betrifft: der Unterschied zwischen Gleichberechtigung und Emanzipation. Der lässt sich gut an der aktuellen Quoten-Debatte ablesen.

Inwiefern?

Ich bin klar für die Quote. Ich glaube, dass sie ein wichtiger Schritt ist. Es geht darum, dass Frauen den gleichen Zugang zu Geld und Macht erlangen und dass sie sich meinetwegen auch jüngere Liebhaber nehmen können, wie Männer es tun. Das ist ein wichtiges Etappenziel. Aber es bedeutet nicht, dass wir damit in einer besseren Welt leben. Denn diese Art von Gleichberechtigung geschieht innerhalb eines paternalistischen Systems – das auch Männer knebelt. Die Emanzipation will viel mehr, sie hat einen utopischen Kern. Da geht es um die Befreiung aus autoritären Strukturen, für beide Geschlechter. Frauen können so machthungrig oder gierig sein wie Männer – die Quote würde da als Erkenntisbeschleuniger helfen. Einflussreiche Frauen wie Sheryl Sandberg oder Ursula von der Leyen betrachte ich inhaltlich mit großer Skepsis. Aber ihr Rollenspiel ist hervorragend

Das „Rollenspiel“ führt uns zurück zu „Top Girl“: Bei dem Bezahl-Sex im Film werden die Rollen ständig getauscht. Die Freier legen ihre Businessanzüge ab und zwängen ihre Füße in Stöckelschuhe, während die Heldin Helena sich einen künstlichen Penis umschnallt und ihren Lieblingskunden penetriert.

Ich wollte auf keinen Fall einen sogenannten Milieufilm drehen. Die Sex-Agentur, in der Helena arbeitet, ist ein Loft mit großen Glasfronten über dem Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte. „Nicht authentisch“, hieß es von manchen. Aber darum geht es mir gar nicht. Ich wollte eigene, auch formal strenge Bilder für diese Art von Geschäftsbeziehungen finden. Natürlich habe ich viel recherchiert. Und demnach haben Fetisch-Praktiken stark zugenommen, in allen Schichten. Ich verurteile das nicht. Sexualität hat heute nicht nur mit einer bestimmten Körperlichkeit zu tun, sondern auch mit Mindfucks aller Art. Als Künstlerin arbeite ich mit diesen Fantasien.

Fast wirkt es in Ihrem Film so, als ob da ein riesiges Hetero-Sex-Theater aufgeführt wird, als ob Männer und Frauen sich gegenseitig karikieren, in den Kostümen des jeweils anderen.

Das ist eine interessante Beobachtung. Da ist was dran.

„Top Girl“ ist Ihr zweiter Film zum Thema „Frauen und Arbeit“. Im Vorläufer, „Die flexible Frau“, ging es um eine prekäre Architektin aus dem Hipster-Milieu. Ist die Prostitution aus Ihrer Sicht ein normaler Beruf?

Es gab ja gerade diese große Prostitutionsdebatte, die Alice Schwarzer losgetreten hat. Viele Frauen empfanden Schwarzers Thesen als bevormundend und sexistisch, das kann ich nachvollziehen. Die Helena in Top Girl hat keinen Zuhälter, sie begreift sich als selbstbestimmt und frei. Solche Sex-Arbeiterinnen gibt es, sogar viele. Aber ich habe bei der Recherche auch ganz andere Geschichten gehört, da ist nichts zu beschönigen. Trotzdem bin ich gegen ein Verbot der Prostitution. Das würde die Frauen zu etwas machen, was sie nicht sind, Kriminelle. Aber man kann auch nicht leichthin sagen, Sexarbeit sei ein Beruf wie jeder andere. Interessanter wäre ohnehin eine Debatte über Körperlichkeit und Intimität im fortgeschrittenen Kapitalismus.

„Déformation professionelle“ lautet der Film-Untertitel. Woran macht sich diese Deformation fest, etwa bei Helena?

Ich wollte vor allem eine gewisse Normalität abbilden. Meine SexArbeiterin Helena hat ein Kind. Sie ist Deutsche und arbeitet oft von zu Hause aus. Eigentlich ist sie Schauspielerin, eine aus der dritten Reihe, die früher mal in einer Soap mitgespielt hat. Aber das läuft eben nicht mehr. Ich will das „Huren“-Bild nicht nur entstigmatisieren, sondern auch entromantisieren. Die Deformation besteht darin, dass Helena in der Sex-Branche Karriere macht, indem sie etwa diese Frauen-Jagd für ihren Hauptkunden organisiert. Die Affirmation der Frau als Beute, der Verrat an ihrem eigenen Geschlecht ist die Voraussetzung für ihren Erfolg.

Auch eine Schönheitschirurgin kommt im Film vor, sie wirbt für Schamlippenstraffungen.

Ja, sie benutzt die Errungenschaften der Frauenbewegung als Werbeargument, spricht von Selbstermächtigung und davon, dass Frauen heute „selbst entscheiden“ könnten, was sie „für sich“ tun wollen. Das ist eine Schein-Emanzipation, eine dieser post-feministischen Rhetoriken. Die Chirurgin ist die Schwester der selbstbestimmten Sex-Arbeiterin. Dieser „Anything-goes“-Gedanke ist Teil einer affirmativen Dienstleistungskultur. Es gibt Frauen, die daraus einen Gewinn ziehen können. Viele andere werden dadurch wieder zu Verliererinnen.

Die gescheiterte Schauspielerin in der Sex-Branche – zuvor die abgebrannte Architektin im Callcenter: Sie werfen einen recht pessimistischen Blick auf die Frau im Postfordismus.

Das stimmt. Vor allem interessieren mich die Widersprüche. Es sind immer Außenseiterinnen der Mittelschicht in meinen Filmen. Diese Abstiegsgeschichten sind in den Großstädten heute doch fast der Normalfall. Und sie treffen eben auch viele Frauen. Was interessant ist, weil Frauen noch gar nicht so lange berufstätig sein „dürfen“. Es trifft auch Helenas Mutter Lotte, eine Alt-68erin, einst eine gefragte Jazz-Sängerin. Heute gibt sie Gesangsunterricht und verkauft Klamotten bei eBay. Aber sie gehört eben einer anderen Generation an, auch einem anderen Feminismus. Sie lebt vielleicht ganz entspannt von Hartz IV und verliebt sich in einen jüngeren Schüler.

Haben Sie für den dritten Teil Ihrer Filmreihe schon eine bestimmte Berufsgruppe im Sinn?

Ja. Es wird sich um zwei PR-Agentinnen drehen. Die sind beauftragt, für das Berufsbild „Weibliche Soldaten“ zu werben.

Da ist er wieder: der Von-der-Leyen-Faktor.

Das Drehbuch gab es schon vor ihrem neuen Militärposten! Im Ernst: Ich glaube, Soldatinnen haben eine große Zukunft. Drohnen sind doch nichts anderes als herumfliegende Penisse. Die müssen betreut werden. Ich denke: Da werden die angeblichen „Soft Skills“von Frauen wieder ganz stark ins Spiel kommen.