Singles, Schweiß und Pirouetten

Erschienen 2009 im ROLLING STONE

Northern Soul – ein Erklärstück

Mit dem Soul ist es einfach: Entweder man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Der Soul heult und jubelt, ohne Rücksicht auf Verluste, er verhandelt Gefühle, ganz ohne Tarnung, ganz ohne Ironie. Motown ist für die meisten die Einstiegsdroge.

So auch für mich: Herbst 1990, ich bin nach England gereist, zum „2nd Magic of Motown and Northern Soul Weekender“ in Great Yarmouth, einer Kleinstadt im mittleren Osten Englands, ein Wuppertal am Meer, das Festivalgelände liegt in einem Campingpark für die Mitarbeiter des Autokonzerns Vauxhall. Ringsum sehe ich kahl rasierte, polternde britische Männer in Trainingsjacken, Verkaufsstände mit Platten, der Geruch von Fish&Chips hängt in der Luft.

Punkt 22 Uhr geht in der Bingohalle kurz das Licht aus, für zwei Sekunden, dann flackert es wieder auf, die ersten Töne von Smokey Robinsons „Tears of a Clown“ erklingen – und Dutzende Menschen strömen auf einen Schlag von allen Seiten aufs Tanzparkett, als ob es eine Abmachung gegeben, als ob die das einstudiert hätten. Die grobschlächtigen Engländer tanzen, wie ich noch nie Leute tanzen sah, alle in ähnlichem Rhythmus, wiegend, gleitend, elegant, leicht, machen Ausfallschritte, holen Schwung mit den Armen, drehen sich präzise wie Eiskunstläufer, die Oberkörper aufrecht, aber die Beine, was die Beine machen, das ist der helle Wahnsinn.

Tief im Working-Class-Duktus verwurzelt

Man kann es nicht deutlich genug sagen: Northern Soul ist eine Subkultur, deren Musik zwar aus den USA kommt, die im Kern aber zutiefst britisch ist. Fred Perry-Shirts, Sporttaschen, Schweißbänder, die erhobene linke Arbeiterfaust als Zugehörigkeits-Emblem („badge“), bequeme Schuhe, klare Regeln fürs Benehmen auf dem Tanzboden, ein ausgefeiltes Plattensammel- und Listenwesen und nicht zuletzt die altehrwürdige Idee des „Respekts“ für einzelne DJ- oder Tänzerleistungen: All dies ist tief im Working Class-Duktus verwurzelt.

Schon beim Begriff „Northern“ fängt es mit den Briten an. Der Gedanke liegt nahe, das „Northern“ diene als Abgrenzung zum „Southern Soul“ und beziehe sich auf den Produktionsstandort innerhalb der USA: Da sind auf der einen Seite die „Stax-“, „Hi“- und „Goldwax“-Labels aus Memphis/Tennessee, mit Künstlern wie Otis Redding, James Carr oder Anne Peebles, deren Musik oft einen Hauch Schwermut enthält, alles ein Tick langsamer, dem Gospel nah –auf der anderen Seite der schnelle, verspielte, gut tanzbare Soul aus den urbanen Zentren im Norden der USA, etwa Philadelphia oder Detroit.

„In Godin we trust“

Erfunden und geprägt hat den „Northern“-Begriff jedoch der britische Musikjournalist Dave Godin, und was er damit 1970 erstmals beschrieb, war die Kluft zwischen der überkandidelten Metropolen-Szene in London und der raueren Jugendkultur im industriell geprägten Norden Englands. Schon in den 60er Jahren hatten die Mods den Soul aus Amerika gehört. Doch mit der dekadenten Ära des Swinging London zerfaserte die Hauptstadtszene zusehends. Während die hippe Londoner Psychedelic-Fraktion ihr langes Haar nun zu Artrock wehen ließen, entdeckten die frühen Skinheads den Reggae; derweil schüttelte man in den Vorläufern der 70s-Diskotheken zu durchproduziertem Funk sein „Ding“.

Die Industriekinder im Norden folgten einem anderen Rhythmus. Nach dem werktäglichen Stahlbad in den Auto- und Werftfabriken wollten sie am Wochenende vor allen Dingen eins: tanzen, schwitzen, vielleicht die Leichtigkeit des eigenen Körpers spüren, wegfliegen. Die treibenden Beats aus Berry Gordy’s „Motown“-Schmiede und von zahlreiche kleineren, unbekannten Labels trafen auf den jugendlichen Hunger nach Bewegung.

Godin, der Journalist, sah damals im „Twisted Wheel“-Club in Manchester junge Männer in sportlicher Kleidung, die auf der Musik zu segeln schienen. Begeistert nannte er es „Northern Soul“, gründete die Tamla-Motown-Appreciation-Society und stiftete der Bewegung ihre Selbst-Definition. Noch heute lautet ein geflügeltes Wort in der Szene: „In Godin we trust“.

George Orwell und die Manchester-Raves

George Orwell hatte in seinem dokumentarischen Roman „Road to Wigan Pier“ schon 1937 den Großraum Manchester als Höllenheimat des Proletariats beschrieben, und ausgerechnet dort lag in den 70er Jahren einer der wichtigsten Northern Soul-Clubs aller Zeiten: das Wigan Casino. Szene-Anhängern ist der 1981 geschlossene Ballsaal eine Legende wie anderen das Studio 54 in New York. Auch im „Mekka“ in Blackpool und im „Golden Torch“ in Turnstall fanden damals erste Allnighter und Weekender statt, die partytechnischen Vorläufer der 25 Jahre später erblühenden „Rave“-Euphorie rund um den Club „Hacienda“ in Manchester: ein eigenwilliger, ekstatischer Ausgehkodex jenseits der Weltstadt London. Trendige oder gar teure Kleidung spielt dabei keine Rolle, es ging und geht ums Wohlfühlen, den „Loose fit“, das uneitel lässige Dabeisein, eine robuste Euphorie.

Nie war die Northern Soul-Bewegung eine Oldie-Kultur, in dem Sinn, dass stets die dieselben alten Lieder aufgelegt wurden. Im Gegenteil: Nach seltenen Schallplatten auch kleiner Labels zu forschen, nach Vinyl-Raritäten wie nach Schätzen zu graben, hält die Szene bis heute lebendig. Nicht von ungefähr heißt einer der frühen bedeutenden Vertriebe für wiederveröffentlichte Soul-Raritäten „Goldmine“. Auch das 1982 gegründete „Kent“-Label wurde schnell zu einer wichtigen Bezugsquelle für Wiederauflagen seltener Stücke, so genannter Re-Issues. Szene-Insider schätzen das Potenzial des Genres auf rund 35.000 Songs.

Applaus für die DJs

Auch wenn einzelne, besonders gesuchte Scheiben mehrere Hundert oder gar Tausend Euro kosten: Für wahre Liebhaber kommen nur die Original-Singles in Frage, erst Recht beim Auflegen. Zu den international bekanntesten einheimischen DJs und Sammlern zählen Marc Forrest aus Berlin, der seit bald 20 Jahren zum Hip City Soul Club ins Hinterzimmer eines Hauptstadt-Pubs lädt, und Jörg Brenner aus München, der bis in die USA gebucht wird und einen kleinen Vinyl-Handel betreibt.

„Es ist eine Frage des Stils und letztlich auch ein Ehrenkodex“, erklärt Brenner die Sache mit dem Vinyl. Altgediente DJs hätten die Musik in jahrelanger Arbeit zusammengetragen und anderen überhaupt erst zugänglich gemacht. „Klar kann man sich vieles heute auch in zwei Minuten als mp3 herunterladen. Die echten Soul-Fans zollen dem DJ und seiner Plattensammlung aber immer noch Respekt, die wissen, wo das alles herkommt.“ In der Tat ist es ein herrlich altmodischer Brauch in der Szene, dass die DJs einen besonders raren Song anmoderieren. Und wenn es eine gelungene Wahl war, bedanken sich die Tänzer schon mal mit Applaus. Bevor sie sich den Schweiß von der Stirn wischen, den Hosenbund hochziehen und sich weiter drehen und drehen und drehen.