Zeitfalten im Zimmerservice

Am 11.11.2023 erscheint die Mini-LP „INTERHOTEL II“ des in Berlin ansässigen deutsch-französischen Duos INTERHOTEL – bestehend aus dem Musiker Graf Tati und der Künstlerin Cécile Dupaquier. Ich hatte das Vergnügen, einen langen Begleittext dazu zu schreiben. Hier ein Auszug (der Beginn):

Zeit ist ein merkwürdiges Ding.

Erinnerungen sammeln sich. Nahrung wird verdaut. Haare wachsen. Die Zeiger der Armbanduhr bewegen sich.

So beschrieb(1) der Philosoph David Kellogg Lewis einmal diese völlig unbegreifliche Angelegenheit – Zeit. Es geht weiter und weiter, immer weiter, und der Mensch kann nichts dagegen tun.

Außer: Er macht die Zeit zu seinem Material. Beginnt ganz bewusst zu „sammeln“ und zu „verdauen“ – so dass er Geschichten bauen kann aus dem Gestern, Heute, Morgen.

Ob David Kellogg Lewis gern Musik hörte (und wenn ja: welche), ist nicht überliefert. Ähnlich wie ein Popstar hat er bis heute seine Fans. Er lebte von 1941 bis 2001, lehrte in Princeton, sah zu Beginn seiner Philosophenlaufbahn aus wie ein strebsamer Versicherungsvertreter, wirkte zum Ende wie ein freundlicher Waldschrat, mit Rauschebart und Aktentasche, und beschäftigte sich mit den interessantesten Fragen, die man sich nur vorstellen kann: mit dem „Leib-Seele-Problem“; mit der „Spieltheorie“; mit der „Wahrheit in der Fiktion“. Und – mit Zeitreisen:

Der Zeitreisende ist, sagen wir mal, eine Stunde unterwegs. Der Zeitpunkt, zu dem er ankommt, liegt aber nicht eine Stunde nach seiner Abreise. […] Wir können zum Beispiel sagen: „Bald wird er in der Vergangenheit sein.“ Wir meinen damit, dass seine Ankunft in einer künftigen Phase seiner persönlichen Zeit liegt – und zugleich in einer früheren Phase der äußeren Zeit, weit vor dem Zeitpunkt, an dem wir diesen Satz über den Zeitreisenden aussprechen.

***

Neulich geschah etwas Unheimliches. Über verschlüsselte Kanäle, unter einer Geheimnummer, mit komplizierten Codewörtern bestellte jemand mich an einen halbdunklen Ort. Dort, in einem gekachelten U-Bahn-Schacht, hinter dem rostigen Metalltor einer stillgelegten Fabrik, an einer nebligen Straßenkreuzung, deren Ampeln schon vor langer Zeit ausgefallen waren, stand ich in meinem Second-Hand-Trenchcoat und blinzelte durch meine Sonnenbrille in die Nacht. Fast wollte ich schon wieder davon schleichen, da kam eine bleiche Hand aus dem Dunkel und steckte mir diese Sache zu. Eine Sache, die längst schon für halbtot erklärt worden war, totally out of fashion, complètement démodé: eine Schallplatte.

Zu Hause, in meinem Privatlabor, machte ich mich sofort daran, die Sache zu dechiffrieren. Zuerst die Verpackung: Auf der Plattenhülle steht ein einziges Wort – Interhotel. So hieß eine Hotelkette in der DDR, fiel mir ein, 1965 gegründet, der gewöhnlichen DDR-Bevölkerung nicht zugänglich, die Frühstückseier wurden in harten (West-)Devisen bezahlt.

Wenn der Zeitreisende in die Vergangenheit zurückkehrt, kann er möglicherweise am Telefon mit sich selbst sprechen

, heißt es bei David Kellogg Lewis.

Unter dem Wort Interhotel ist eine Frau zu sehen, in schwarzem Rollkragenpullover, weißem Mantel, mit schlecht sitzender blonder Perücke. Wie eine Stasi-Agentin im ersten Lehrjahr, dachte ich. Die Frau steht an einem öffentlichen Münzfernsprecher, wie sie einst überall in Deutschland zu finden waren, an ostdeutschen Tankstellen wie in westdeutschen Fußgängerzonen. Ruft sie sich selbst an?

Vorsichtig nahm ich das Vinyl aus seiner Hülle, legte es auf meinen Plattenspieler, ein unhandliches Gerät aus dem späten 20. Jahrhundert, und hörte das statische Premierenknacken – diesen einen harten, elektrisch aufgeladenen Knacks, der ertönt, wenn eine Vinylscheibe erstmals mit einer Nadel in Kontakt kommt. Nie wieder wird diese Platte so knacken wie jetzt, beim allerersten Mal, überlegte ich und erschauerte vor Melancholie, noch bevor der erste Song begann.

Doppelagent heißt der Opener, und ich war sofort bezaubert, was bekanntlich nur ein anderer Ausdruck für „verwirrt“ ist. Was ich da hörte, klang wie Musik aus den frühen 1980er Jahren. Wie ein Flohmarkt-Zufalls-Fund, um den Sammler einen beneiden (Wo hast du DAS denn ausgegraben?). Wie ein verschollenes Kunstwerk, das sehr cool und sehr geduldig, fast ein halbes Jahrhundert lang, auf seine Wiederentdeckung gewartet hat. Die Musik: elektronisch, minimalistisch, kühl, aber keineswegs unmelodisch. Der Gesang: eine Männerstimme, eher dunkel als hell, ein wenig arrogant vielleicht, insgesamt recht angenehm. Im Hintergrund: eine Frauenstimme, ein ätherisches Aah-hah-aah-aah als Chor. Der Mann singt in drei Sprachen, Deutsch, Englisch, Französisch – und die Armbanduhr, die David Kellog Lewis in seinen Zeitreisen-Überlegungen erwähnt, kommt gleich zu Beginn vor:

Ich schau’ auf meine Armbanduhr
Ost-West-Beziehung mise à jour
Update, Test, Brüssel, Brest, Saint-Pétersbourg

***

Interhotel sind von heute – und klingen tatsächlich „wie früher“. Sie klingen aber nur „wie früher“, weil sie eben von heute sind.

Oder so gesagt: Wäre diese Platte 1983 erschienen, wäre sie eine Platte. Da sie aber jetzt, im Jahr 2023 erscheint, ist es eine besondere Platte.

Interhotel, das sind der Musiker Graf Tati und die Künstlerin Cécile Dupaquier, sie kamen aus Köln und Lyon nach Berlin – keinerlei Ostblockhintergrund. Sie spielen bloß mit diesem DDR-Markennamen, Interhotel. So wie sie überhaupt mit „Deutschland“ spielen, mit seinen unterschiedlichen Entwürfen und Projektionen. Sie bedienen sich an „Deutschlands“ Phrasen, nutzen sie wie Farben auf einer Palette, wie Bastelbausteine, aus denen sie ein klingendes Kunstwerk errichten – voller nostalgischer Andeutungen und soziokultureller Verweise:

BND, Schnickschnack, Fliege fliegt Zickzack
Quellen versiegen mit der Zeit,
was bleibt sindKreuzworträtsel der Vergangenheit

Mit Referenzen gespickt ist auch der Sound. Tati und Dupaquier sind schnell enttarnt – als ungeheuer belesene, sehr genau arbeitende Stilisten. Alle sechs Stücke wirken verblüffend „original“, führen in eine eigentlich längst vergangene Klangwelt, mit einfachen Mitteln, im Homerecording-Modus hergestellt, im DIY-Prinzip der Post-Punk-Ära, ungefähr so, wie es einst wohl auch in Sheffield, Düsseldorf und Brest gelaufen sein muss. Gefragt, welche Maschinen, Samples, Tricks sie nutzen, rücken sie eine lange Liste mit lauter magischen Namen heraus: Maestro Rhythm KingTB 303CS 80Elka SynthVako OrchestronSolina StringsAce Tone Rhythm Ace FR-4Roland MC-303Korg MicrokorgCrumar PerformerYamaha PS-30Jupiter 8 – Moog Grandmother.

Warum heute Musik machen, die „wie früher“ klingt? Falsche Frage! Genauer gesagt: eine völlig aus der Zeit gefallene Frage. Schon der Punk der 1970er war ein einziges großes „Retro“-Phänomen, er griff ganz bewusst auf die archaischen Produktionsweisen der 1960er zurück – „Wie aus der Garage“. Auch HipHop basierte zunächst auf Samples des Schondagewesenen, auf alten Funk- und Soul-Originalen. Heute sind Umdiezwanzigjährige wieder fasziniert von der elektronischen Musik, mit der ihre Eltern vor dem Mauerfall aufwuchsen. Sie schöpfen aus einem prall gefüllten Pool von Sounds und Zeichen, kombinieren Versatzstücke aus Vorgängergenerationen auf neue Art. Manche der Jüngeren bezeichnen dieses Schwimmen in der popkulturellen Gleichzeitigkeit – oder besser: Zeitlosigkeit – als „Mindstate Malibu“.(2)

Als „Retromania“ beschrieb der britische Musikjournalist Simon Reynolds 2011 solche kulturellen Phasenverschiebungen. Von einer „Hauntology“, einer Heimsuchung durch die immer gleichen Geister der Vergangenheit, schrieb, deutlich pessimistischer, der ebenfalls britische Kulturwissenschaftler Mark Fisher (1968-2017). Er bezog sich auf den französischen Dekonstruktivisten Jacques Derrida und dessen Thesen von den „verlorenen Zukünften“, die über der neoliberalen (Post-)Moderne schweben wie dunkle Gewitterwolken.

Wie auch immer man es bewerten mag: Das Gestern wirkt ins Heute nach, manchmal sogar ziemlich aufdringlich und insbesondere in der (Pop-)Musik.

Who knows
You know
I will take you wherever I want …

, singt Cécile Dupaquier in Drive Lady.

Wahr ist, dass der Zeitreisende, anders als der Rest von uns, über zwei verschiedene vollständige Versionen von sich selbst verfügt, die sich zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten befinden

, stellte David Kellogg Lewis fest.

Was ist ein Hotelzimmer anderes als eine Zwischenstation? Ein Transitraum? Man ist fort – und gleichzeitig da. Das Inter ist vage, ungebunden. Ein Versteck. Und ein Ausgangspunkt.

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