8 Minuten Radio – über Christian Geisslers „Anfrage“ (1960)

Dieses Buch hat mich umgehauen: der Roman „Anfrage“, 1960 erschienen, als erster Roman des Schriftstellers Christian Geissler (1928-2008). Im Verbrecher Verlag ist kürzlich eine Neuauflage erschienen, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Detlef Grumbach von der Christian-Geissler-Gesellschaft.

Heute hatte ich das Vergnügen, in der Sendung „Literaturagenten“ bei RadioEins / rbb ein paar Minuten über diesen Hammertext zu sprechen, nachzuhören im Podcast ab Minute 38:35 (3.9.2023 – „Die Literaturagenten live vom Sommerfest des LCB“).

Zuvor hatte ich meine spontane Begeisterung vor ein paar Wochen an anderem Ort (beim ollen facebook) wie folgt ausgedrückt (ich copye&paste es jetzt mal schnell):

Was für ein Ding – das hier ist es – das Buch, nach dem ich gesucht habe, seit ich einigermaßen selbstständig denken kann. Christian Geissler – „Anfrage“ – Roman – von 1960 – setzt sich mit Nazi-Deutschland und den beiden angeblich „neuen“ Nachkriegs-Deutschlands auf eine Art auseinander, wie ich es nie irgendwo anders las. Das hier ist er – der Roman, von dem ich immer dachte: IRGENDWO MÜSSTE ES IHN DOCH GEBEN! Dem Verbrecher Verlag kann nicht genug gedankt werden, dass er diesen Autor (wieder) verlegt!

Mini-„Bildungs“-Skizze:

In den 1980ern salbaderte mein Lateinlehrer („alte Garde“) von der „Überlegenheit gewisser Völker“ – in Deutsch lasen wir als „wichtigen Anti-Nazi“-Autor Wolfgang Borchert, „Draußen vor der Tür“ – die mythisch rülpsende Elbe – die schwülstige „Innerlichkeit“ des Ex-Frontsoldaten … GANZ DEUTSCHLAND konnte sich in den Nachkriegsjahren aufs Kuscheligste mit diesem Text anfreunden – well, well …

Später: Böll – dessen Texten diese gewisse Betulichkeit zu eigen ist, die mich stets nervte. Grass – der seine Waffen-SS-Vergangenheit erst 2006 verriet (nachdem er 2002 der „Gustloff“ einen Roman gewidmet hatte). Fallada …. „Jeder stirbt für sich allein“ – ja – schon … – aber: Fallada selbst … seine drogenbedröhnte „Welteinsamkeit“ in Meck-Pomm … Kinderbücher … während die Nazis wüteten …

Später dachte ich, Vespers „Reise“ könnte es sein – das Buch, von dem ich sicher war, dass es es doch geben müsste! – Ende der 90er legte ich es erschrocken weg – 2018 las ich es noch mal – nunmehr: rundheraus entsetzt. Ich behaupte: Nazi-Sohn und RAF-Freund Vesper würde heute für „Compact“ schreiben.

So kam ich immer wieder bei Wolfgang Koeppen heraus – er schien mir bislang der klarste, schärfste zu sein.

Nun aber weiß ich: Geissler war’s!

Dank Ulrich Gutmair übrigens, der in der wochtentaz eine Rezension drüber schrieb.

Habe Geissler wirklich erst jetzt entdeckt – wie konnte ich so auf dem Schlauch stehen!

Nun will und werde ich noch mehr von Geissler lesen – und bin keineswegs sicher, dass mich sein weiteres Werk ebenso uneingeschränkt begeistern wird. Er sympathisierte phasenweise wohl innig mit dem Katholizismus, später mit dem Kommunismus, und was ich bislang noch alles über ihn aufschnappte, geht stark in Richtung „Anti-Imp“, „Antiamerikanismus“, well well. Dieser Estlingsroman aber, „Anfrage“, ist wirklich ein ungeheuer scharfes Stück politischer Literatur (und „scharf“ ist hier nicht mal metaphorisch gemeint) – ein Roman, dessen Wucht brandaktuell, nicht nur wegen des „Aiwanger-Falls“, reinhaut– ein Text gegen das „Wir haben doch nichts gewusst“, „Was früher war, zählt nicht mehr“ und das „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“.

Mein Fazit bei den „Literaturagenten“ im Radio lautete vorhin:

„Wenn Deutsche von deutschen Tugenden schwärmen, ist höchste Vorsicht angebracht – dieser Roman zeigt, warum“