Erschienen am 8. August 2023 in der taz
Echt anstrengend war es neulich an der Heimatfront. Huch, habe ich das jetzt wirklich gesagt: „Heimatfront“? Aber es herrscht ja tatsächlich eine Art Krieg, und zwar zwischen Onkel Ulf und mir. Er wähle die AfD, erklärte er mir mal. „Da könnt’ ich natürlich kotzen“, antwortete ich. Dennoch reden wir weiterhin miteinander. Es ist halt: Familie, aus derselben urdeutschen Matschepampe gezüchtet – „ein Blut“, wie Onkel Ulf sagt.
Als wir kürzlich durch „unseren“ Ort spazierten, eine hessische Kleinstadt, wohlhabend und aufgeräumt, schimpfte er: „Hier eine Pizzeria, da ein Thai, zwei Griechen und jetzt sogar ein Syrer!“ Nach einem Krautrippchen müsse er regelrecht suchen! „Es verbietet den Deutschen ja keiner, ihre eigenen Lokale zu eröffnen“, sagte ich, „stell dir mal vor, all diese Läden wären dicht – wie tot es hier wäre.“
Da platzte es aus ihm heraus: „Wir Deutschen sterben aus!“ „Au Mann“, stöhnte ich und hörte meinen nie befruchteten Deutsche-Frauen-Bauch gluckern.
Ein paar Tage später hatte ich Onkel Ulf schon wieder vor der Nase, diesmal in Gestalt von AfD-Co-Chef Tino Chrupalla. Im „ZDF-Sommerinterview“ sprach er mit Shakuntala Banerjee, Kind einer Deutschen und eines Inders. Banerjee zitierte „Stimmen aus der Wirtschaft“, mindestens 400.000 Zuwanderungen pro Jahr seien nötig, um den Laden am Laufen zu halten.
Chrupalla antwortete, es gelte, „aus eigener Kraft heraus mit unserem Nachwuchs“ neue Fachkräfte zu „generieren“. Banerjee: „Bis 2060 fehlen 16 Millionen Arbeitskräfte, die man dann irgendwie … ja … zeugen müsste …“ Chrupalla: „Ja, wir müssen einfach damit auch mal anfangen.“
Schnell schaltete ich um, Frau Banerjee zuliebe, denn ich wollte mir die beiden nicht beim Zeugungsprozess vorstellen. Und plötzlich dachte ich an den FDP-Mann Daniel Bahr: „In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder“ hatte der im Jahr 2005 gesagt, Thilo Sarrazin walzte den Satz auf 500 Buchseiten aus: „Deutschland schafft sich ab.“
Prompt schoss mir der „Attentäter von Halle“ in den Sinn, der 2019 in einem Live-Stream sagte: „Der Feminismus ist der Grund für die sinkenden Geburtenraten im Westen, die das Einfallstor für Massenmigration sind. Und die Wurzel all diesen Übels ist der Jude.“
Von da kam ich auf Heinrich Himmlers „Zeugungserlass“: „Für die Männer und Frauen, deren Platz durch den Befehl des Staates in der Heimat ist, gilt gerade in dieser Zeit die heilige Verpflichtung, wiederum Väter und Mütter von Kindern zu werden.“ In meinem Unterleib zog es, als ob sich da ein „Mutterkreuz“ aus deutschem Kruppstahl verkeilt hätte.
Auf einmal tanzte ein Grüppchen „trad wives“ vor meinem inneren Auge, „traditionelle Ehefrauen“ und Trump-Anhängerinnen, die an die „Überlegenheit der weißen Rasse“ glauben. Eine von ihnen hatte zur „white baby challenge“ aufgerufen. Schließlich fiel mir Ellen Kositza ein, die Rechtsaußenverlegerin, die von ihren sieben deutschen Kindern schwärmt: Alle habe sie zu Hause bekommen, manche auf allen vieren hockend.
Bei diesem Bild wurde mir ganz blümerant, erst riss ich die Fenster auf, dann das Laptop. Mit 1,46 Kindern je Frau sei die Geburtenziffer in Deutschland im Jahr 2022 erneut gesunken, „auf den niedrigsten Stand seit 2013“, las ich beim Statistischen Bundesamt. Die Ostfrau gebiert demnach 1,43 Kinder, die Westfrau 1,48, und auch bei „Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit“ sank die Rate ein weiteres Mal, auf 1,88.
Ich überlegte: Die Fortpflanzungsrenitenz hat viele Gründe. Einen davon hat Chrupalla angeführt: fehlende Kinderbetreuungsplätze. Doch es bräuchte viel mehr. Eine Stärkung von Alleinerziehenden. Ein Einkommensgefüge, das Zukunftspläne erlaubt, für Frauen und Männer. Womöglich ist „die deutsche Frau“ auch abgeturnt, weil sie weiß, dass der Großteil der Familienarbeit an ihr hängen bleibt.
Letztlich geht es niemanden und auch nicht den Staat etwas an, warum jemand sich fortpflanzt oder nicht. Der Ruf nach „völkisch reinem Blut“ wird lauter, in Ost wie West, Polen, Ungarn, den USA und hier. „Vögeln für Deutschland“: Schlagartig lässt dieser Appell all meine Säfte versiegen. Ich hoffe, dass es meinen 84 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ebenso geht.