Solidarität mit dem stationären Einzelhandel

Was für ein bitterer Preis für solch ein Missmanagement – in das über die vergangenen zwei Jahre noch einmal 680 Mio Euro an Steuergeldern geflossen sind (über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds WSF). An die 5.000 „Galeria“-Karstadt-Kaufhof-Beschäftige verlieren nun also tatsächlich ihre Jobs – finden wahrscheinlich (hoffentlich) schnell irgendetwas Neues, angesichts des grassierenden Arbeitskräftemangels – aber – dennoch: übelst. Auch das „Galeria“-Haus am Weddinger Leopoldplatz, in meinem Viertel, ist betroffen, und man muss Kellings und Wilsons Broken Windows Theorie nicht kennen, um sich auszumalen, was eine riesige Bau-Brache an diesem Ort (und an so vielen anderen Orten in ohnehin-schon-so-ugly D-Land) anrichten wird – im „sozialen Gefüge“ – als verlorener „Begegnungsort“ auch – ja, tatsächlich: In der Weltstadt Wedding IST das  für viele (noch) so, mit der „Begegnung bei Karstadt“. Das obige Foto von einem Weddinger Gentleman im Karstadt-Kaufhof-blauen Karo – Anzug und Tüte sind perfekt aufeinander abgestimmt – nahm ich 2016 oder 2017 auf.

Nun fiel mir eine Stelle aus dem ECHTLEBEN ein – sie erzählt vom stationären Einzelhandel – ich copye & paste sie jetzt und hänge sie hier unten hin.

Auszug aus dem ECHTLEBEN-Kapitel
»SHOPPINGDEMOKRATIE. Bei Hertie haben sie jetzt großes Latinum!«

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Verlangten mein Bruder oder ich nach größeren Extras, nach einem Dolbysurround-Plattenspieler oder einer Polaroid-Kamera, erklärten unsere Eltern, dass wir dafür »arbeiten gehen« mussten. Heute denke ich, die Aufforderung »arbeiten zu gehen« war eher eine pädagogische Maßnahme als eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sonderlich groß waren unsere Kinderwünsche eigentlich nicht. Meinen ersten Job erledigte ich mit 15 in den Sommerferien, untertage, in der Lebensmittelabteilung des örtlichen Kaufhauses Hertie. Vier Wochen lang schob ich im Souterrain die Einkaufswagen zusammen, die die Kunden an den Kassen zurückgelassen hatten, es war die Zeit vor den Einkaufswagen-Chips. Ab und an wurde ich auch zum Aufräumen oder Kistchen und Tütchen Umschichten hinter die Kulissen gerufen. Das Warenlager befand sich direkt hinter der Frischfleischtheke und neben der Kühlkammer, und die Klimaanlage schaffte es nicht, das Odeur geronnenen Schweine- und Kälberblutes zu vertreiben. Noch Jahre danach kroch sofort der süßliche Geruch verdorbenen Fleisches in meine Erinnerung, wenn jemand den Namen Hertie erwähnte (was kaum noch geschieht, seit der Konzern abgewickelt ist).

Später wurde ich in der Spielzeug-, der Kurzwaren- und der Unterwäscheabteilung eingesetzt, und das Verrückte war: Als tapsige Aushilfe verdiente ich mit spitzen Fingern binnen vier Wochen deutlich mehr als die gelernten Einzelhandelskaufleute, denen ich stümperhaft zur Hand ging. Eine dreijährige Ausbildung hatten die hinter sich, mit Berufsschule, Abschlussprüfung, allem Pipapo. Dennoch holte ich als Gymnasiastin auf Erwerbsbesuch viel mehr heraus, noch dazu erhielt ich via Lohnsteuerjahresausgleich am Ende des Jahres sämtliche Abgaben zurück.

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Das künstliche Licht, die künstliche Luft, das Sperrholz in der Kantine, das dort aufgewärmte Dosengulasch, der Plastik-Efeu, die quietschenden Warenständer, achteinhalb Stunden netto jeden Tag die »Jetzt bin ich aber mal dran!«-Kundschaft auf Mundgeruch-Nähe: Seit jenen Tagen weise ich Menschen, die über unfreundliches Personal im Einzelhandel herziehen, harsch zurecht. Ich bin die, die immer auf der Seite der Verkäuferin steht. Es ist nämlich ein fürchterlicher Job, da draußen, an der Frontlinie der Grundversorgungssicherstellung, an den Pforten der Umtauschhölle, in den Auspuffgasen der Traumerfüllung, im gemeingefährlichen Zirkus der Bedürfnisbefriedigungsenttäuschung.

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