WENN SOCIAL SCIENCE FICTION REALITÄT WIRD

AHOI,

hier geht es um vier Bücher, die allesamt schon „alt“ sind, vor Jahrzehnten erschienen, und irritierend gut zum Hier & Jetzt passen.

Kurzer Vor-Vortrag:

Das Genre Social Science Fiction gilt als Untergattung der Science Fiction und wird manchmal auch als spekulative Literatur bezeichnet. Meist handelt es sich um Fiktionen, die in einer nicht näher bestimmten Zukunft angesiedelt sind – wobei es weniger um technische Neuerungen geht, als vielmehr um dystopische oder utopische gesellschaftliche Entwicklungen. Also um das, was in der Fantasie der Autorin oder des Autors eines Tages „mit den Leuten“ passieren könnte.

Die Dystopien überwiegen dabei, was wahrscheinlich auch daran liegt, dass die Social Science Fiction ihre Blütezeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte, als der Faschismus und der Stalinismus die Welt das Fürchten lehrten und vorführten, wie technische und andere moderne Errungenschaften zur Massenmanipulation und Massenvernichtung von Menschen benutzt werden können.

Vor allem im anglo-amerikanischen Raum wurde (und wird) viel Social Science Fiction geschrieben, drei der bekanntesten und prominent verfilmten Werke des Genres sind die Romane 1984 von George Orwell (von 1949), FAHRENHEIT 451 von Ray Bradbury (von 1953) und THE HANDMAID’S TALE / DER REPORT DER MAGD von Margaret Atwood (von 1985). Von George Orwell stammt auch dieses berühmte dystopische Zitat:

If you want a picture of the future, imagine a boot stamping on a human face forever.

Im allerersten Beitrag dieses nagelneuen Blogs habe ich gerade über meine Abscheu vor dem Konzern META (Facebook etc) geschrieben – habe Donald Trump erwähnt – und die Wörter „Neo-Feudalismus“ und „Proto-Faschismus“ verwendet.

Und zu all dem sind mir jetzt die folgenden vier Bücher eingefallen. Zwei davon (Sinclair Lewis und David Karp) bewegen sich im Social-Science-Fiction-Genre, die anderen beiden nicht, die Lektüre lohnt sich so oder so.

Immer die Ihre: KK


SINCLAIR LEWIS
IT CAN’T HAPPEN HERE / DAS IST BEI UNS NICHT MÖGLICH (1935)

Hier oben links sehen Sie den US-amerikanischen Schriftsteller Sinclair Lewis (1885-1951). Ich lernte ihn in den frühen 1990ern im Amerikanistik-Studium kennen und schätzen, dort war sein Mittelschichts-Horror-Roman BABBITT (von 1922) Seminarstoff, und ich war sofort begeistert von Lewis‘ eigenwilliger Schärfe, seinem satirischen Ton.

Das Buch, das ich hier nun aus aktuellem Anlass empfehlen will, heißt im Original IT CAN’T HAPPEN HERE (auf Deutsch: DAS IST BEI UNS NICHT MÖGLICH), stammt aus dem Jahr 1935, war damals in den USA ein großer Erfolg und ist aus heutiger Perspektive vor allem deshalb faszinierend, sogar gruselig, weil – tataaa! – Lewis in diesem Roman Donald Trump vorhergesehen hat! Tatsächlich, echt und wirklich: Der fiktive Roman-Protagonist Berzelius ,Buzz‘ Windrip ähnelt Donald Trump in mancher Hinsicht beinahe eins-zu-eins.

2017, kurz nachdem Trump erstmals als Präsident vereidigt worden war, sprach ich bei Deutschlandfunkkultur über diesen Roman, hier ein kleiner Auszug:

Berzelius „Buzz“ Windrip sei eine Figur, die tatsächlich Donald Trump „extrem“ ähnele, sagt Katja Kullmann: Er sei ein jovialer Senator, nicht sonderlich schlau oder gebildet, extrem machthungrig, fast schon kleinkindhaft-trotzig. Im Roman trete er gegen den realen Franklin D. Roosevelt an – mit Parolen und Botschaften, die einem bekannt vorkommen: Windrip spreche davon, dass er die „forgotten men“ – die in der Wirtschaftsdepression verarmte amerikanische weiße Mittelklasse – retten werde. Sein Slogan sei: „To make America a proud, rich land again“. Und er sei gegen so genannte „Bücher-Eliten“. An seiner Seite: ein „satanischer Sekretär“, der dem Trump-Chefstrategen Stephen Bannon ähnele.

Im Gegensatz zum realen Donald Trump scheitert die Romanfigur mit ihren Präsidentschaftsplänen – die heutige US-Realität ist also greller als alles, was der Satiriker und Social-Science-Fiction-Autor Sinclair Lewis sich vor 90 Jahren ausgemalt hat.

Dennoch kann dieser Roman jetzt ein Trost sein, denn er zeigt, was die Literatur, was ein wirklich guter Schriftsteller alles hinbekommen kann: Zum einen hat Lewis den damals in Europa aufziehenden Faschismus sehr genau beobachtet. Schon 1933/34, während er diesen Roman schrieb und während so manche noch genervt abwinkten („Ist doch alles halb so wild, mit diesem Hitler da!“) war Sinclair Lewis klar, was sich zusammenbraute. Zum zweiten ist es ihm gelungen (über welche Eingebungskanäle auch immer), einen verblüffend klaren Blick auf die mittelferne Zukunft, unser Hier & Heute zu werfen – visionär ist da gar kein Ausdruck.

Lewis war übrigens mit einer sehr beeindruckenden und ebenfalls radikal antifaschistischen Frau verheiratet, Dorothy Thompson, über die ich bei Gelegenheit hier in diesem Blog noch etwas erzählen werde.

Ich mag den Kerl jedenfalls, checken Sie ihn ruhig mal aus.


MARK SINGER
TRUMP & ME (2016)

Ich habe gar nicht mitgezählt, wie viele Bücher über den Mann nun schon erschienen sind, ich will auch keines über ihn lesen – wobei ich dieses sehr schmale Taschenbuchbändchen von 2016 doch als ganz amüsant in Erinnerung habe: TRUMP & ME, ein pointiertes, reportage-artiges Porträt über besagte Figur, geschrieben vom New Yorker-Reporter Mark Singer.

Oben sehen Sie, was auf der Rückseite des Buches steht: neben anderen Kritiker-Blurbs auch ein Zitat von Trump selbst. So sieht des Büchlein (man hat es in zwei Stunden gelesen) von vorne aus:

Das Interessante an TRUMP & ME: Es beruht auf wahren Begegnungen zwischen Singer und Trump, die sich allerdings schon 1997 zutrugen, während Trump noch als halbseidener Geldadel-Promi in New York zugange war. Mark Singer war damals von seiner Redaktion mehr oder weniger gezwungen worden, sich mit jenem Mann journalistisch zu beschäftigen, und heraus kam dabei eben diese kleine Real-Life-Erzählung, in der Donald Trump vor allem als eines erscheint: ein „Cartoon-Millionär“, eine fast schon tragische Figur, eine Person ohne erkennbaren Kern, oder, wie es bei Singer heißt: „On some fundamental level there is nothing to say about Trump.“

Eine ziemlich gute, pointierte und tiefschürfende Besprechung des Buches – wiederum verfasst von einem Schriftsteller, dem Briten Hari Kunzru – ist beim Guardian zu lesen.


DAVID KARP
ONE (1953)

Dies hier ist wirklich ein merkwürdiges Ding: Der Social-Science-Fiction-Roman ONE von David Karp, einem US-amerikanischen Schriftsteller, von dem ich noch nie irgendwo etwas gehört oder gelesen hatte, und zu dem es auch im Netz nicht allzu viel zu finden gibt, ein paar spärliche Infos fand ich zunächst nur bei der US-Wikipedia.

Durch einen Zufall, während einer Recherche nach etwas ganz anderem, bin ich in einem Online-Antiquariat auf dieses Ding gestoßen – fand die Stichworte zum Inhalt ganz interessant – mag ohnehin Literatur aus jener Zeit (ONE erschien 1953) – fand auch den Preis sympathisch (drei Dollar, glaube ich) – und so habe ich es mitbestellt. Dann lag es eine Weile ungelesen herum … und als ich es mir dann endlich mal vornahm, war ich ziemlich angetan.

„Irgendwo zwischen Kafka und Orwell“: So habe ich diesen Roman andernorts schon mal beschrieben. ONE ist ursprünglich auch unter einem zweiten Titel erschienen, und jener Alternativtitel verweist schon auf den dystopischen Charakter der Geschichte: ESCAPE TO NOWHERE.

Der Plot: Ein unbescholtener Bürger gerät in die Gehirnwäschemaschinerie eines autoriräten Staates – und wird mit allerlei psychologischen Finessen und moderaten Foltern solange in die Mangel genommen, bis er sich selbst für einen „Ketzer“, einen „Verräter“ oder „Systemfeind“ hält. Obwohl er, wie gesagt, im Grunde ganz friedlich und linientreu vor sich hingelebt hat. Besonders spannend daran: Auch die Täterperspektive, die Sicht des staatlichen Quälers, wird beleuchtet.

Ein ziemlich intensives Ding, psychologisch deep, sozusagen.

Und erst jetzt sah ich, dass ONE kürzlich, 2023, noch einmal neu aufgelegt wurde, also ohne Probleme zu haben ist, beim US-Verlag Valancourt Books.

Eine wirklich gehaltvolle, hochpolitische Auseinandersetzung mit diesem Roman habe ich bei einem schwedischen Blogger namens Jan gefunden. Er setzt ONE in Relation zum Antisemitismus im Sowjetkommunismus bzw. Stalinismus. Ein anspruchsvoller und superlanger Longread, uff, aber wirklich interessant, The Party is always right heißt der Text.


SEBASTIAN HAFFNER
GESCHICHTE EINES DEUTSCHEN (1939 geschrieben, aber erst 2000 posthum veröffentlicht)

Zu diesem Buch fasse ich mich nun eher kurz, denn: Ich habe es noch nicht gelesen.

Vor ein paar Tagen fiel es mir zufällig in die Hände – und das ist beides wörtlich zu verstehen, sowohl das mit dem Zufall, als auch das „in die Hände fallen“. Beinahe erscheint mir die Sache sogar ein bisschen magisch.

Es war nämlich so: Im Netz stieß ich kürzlich auf eine Besprechung dieses Buches, die Schweizer Soziologin Franziska Schutzbach hatte 2016 darüber geschrieben und ihre damaligen Überlegungen jetzt noch einmal neu verlinkt – ein sehr guter Text. Nachdem ich ihn gelesen hatte, nahm ich mir vor, mir Haffners Erinnerungen schnellstmöglich zu besorgen. (Seine ANMERKUNGEN ZU HITLER kannte/kenne ich schon.)

Dann musste ich aber erst mal für ein paar Tage zu einer kleinen Reise aufbrechen. Unterwegs stritt ich mich dann ziemlich heftig mit jemandem über die AfD. (Bundesrepublikanischer Alltag in den neuen 20er Jahren, nicht wahr?)

Kurz nach besagtem Streit stieß ich (immer noch unterwegs) auf eine dieser öffentlichen Bücherboxen. Eine tolle Erfindung, wenn ich eine entdecke, schaue ich eigentlich immer mal kurz, was sich gerade darin befindet.

Und so öffnete ich also jene Bücherbox, in einer Stadt weit weg von meinem Zuhause, et voilà: Das Buch, das mir dort als erstes entgegenstrahlte, war Sebastian Haffners GESCHICHTE EINES DEUTSCHEN, in der Original-Hardcover-Ausgabe von 2000, augenscheinlich ungelesen, wie neu.

Schicksal? Vorbestimmung? Würfelglück?

Wie auch immer, es scheint mir eine höchst passende Lektüre für diese unsere Zeit jetzt zu sein.

So, damit gebe ich nun erst einmal wieder Ruhe.

Immer die Ihre: KK


Fotohinweis: Das Beitragsbild ganz oben (Frau telefoniert neben Roboter) ist im Sommer 1942 von Marjory Collins aufgenommen worden und von der Library of Congress in Washington entliehen – wie auch das Porträt von Sinclair Lewis und das Theaterplakat daneben.

Katja Kullmann
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