AT HOME SHE’S A TOURIST

AHOI!

Oben sehen Sie eine alte Agfa-Kamera in ihrem schicken Lederetui, ein Modell aus der ersten Hälfte des 20. Jhdts. – entweder einst im Besitz meines Opas oder meines Vaters (bin mir gerade gar nicht mehr sicher). Irgendwann in den 1990ern habe ich das Gerät an mich genommen, es funktioniert zwar nicht mehr, aber ich fand die Form und eben auch das Etui so schön.1

Die Kamera fiel mir nun wieder ein, weil sie zu der Überschrift dieses Blog-Eintrags passt – und die Überschrift wiederum habe ich von einem meiner ewigen Lieblingssongs geborgt: At home he’s a tourist von Gang of Four. Feinster Post-Punk von der britischen Insel, von 1979.

At home he feels like a tourist
At home he feels like a tourist
He fills his head with culture
He gives himself an ulcer
He fills his head with culture
He gives himself an ulcer

So lautet die erste Strophe des Stücks, das ich über die Jahre bestimmt an die 1.000 mal gehört habe, doch bei dieser eine Zeile bin ich bis heute unsicher: „He gives himself an ulcer“ – das heißt so viel wie: „Er beschert sich ein Geschwür“. Nun gut …

(Randbemerkung: Mein allerliebstes Lieblingslied der Gang of Four sind ja ohnehin die Damaged Goods – was nicht nur daran liegt, dass diese schöne Punk-Anthologie aus dem Ventil Verlag (an der ich mitgewirkt habe) jenen Titel trägt. Eine Fortsetzung dieser Anthologie ist übrigens gerade in der Mache, yeah! Dazu in ein paar Monaten dann mehr.)

Februar-Blues …

Anyway, wie wir Globalistinnen2 sagen: Ich fülle meinen Schädel derzeit tatsächlich mit recht viel culture. Jedes Jahr im Februar habe ich da einen kleinen Schub. Denn ( – sorry, werte Februar-Fans – ) rein licht- und temperaturhalber halte ich besagten Monat für eine vier Wochen zu lange Un-ver-schämt-heit. Ein dermaßen unnötiger Rest-Bröckel-Shit-Winter! Jedes Jahr dasselbe! Und ebendeshalb, zur Ablenkung vom Februar-Blues, stürze ich mich immer gerade dann, in Kunst- und Kulturzeugs. Während ich den Januar meist noch verschlafe.

(Aktuell gibt es natürlich noch ganz andere Gründe, sich abzulenken von diesem und jenem … ganz am Ende dieses Blog-Eintrags komme ich darauf zurück.)

Wie eine Touristin durch die eigene Stadt zu spazieren, ist ja sowieso immer eine gute Idee, und wenn es eine große Stadt ist, kann man natürlich hie und da Neues entdecken, auch nach 11 Jahren noch. So lange wohne ich jetzt z.B. schon wieder hier, im dicken B (keine Leidenschaft, eine reine Vernunftehe).

… in Hellersdorf

Kürzlich hat ein sehr freundlicher Mensch mich mal auf einen Spaziergang durch Hellersdorf mitgenommen, einen „Ost“-Stadtteil, den ich bis dahin tatsächlich fast nur vom Hörensagen kannte, und der erste Berliner Wahlbezirk überhaupt, in dem die AfD nun gerade ein Wahlkreismandat holen konnte.

Ich habe übrigens kein „schlechtes Gewissen“, dass ich mich dort zuvor noch nie umgesehen hatte, ich kenne auch viele andere Berliner Ecken noch nicht, in Ost wie in West – und nehme außerdem an, dass sich eine Hellersdorferin auch eher selten in den westlichen Wedding verirrt, nicht in das Karree, in dem ich lebe, jedenfalls. (Sozioökonomisch ist Hellersdorf gar nicht so unähnlich aufgestellt, wie mir scheint, nur dass man hier im Wedding wohl doch noch ein paar mehr verschiedene Sprachen auf der Straße hört.)

Der Spaziergang durch Hellersdorf fand jedenfalls eine Woche vor der Wahl statt, und was mir dort als am „fremdesten“, aufgefallen ist, waren die Straßennamen. Im Westen habe ich diese Leute noch nie auf Straßenschildern gesehen, und was für eine schräge Kombi auch: der Antifaschist Peter Weiss – die Nazi-UFA-Schauspielerin Lil Dagover – und Maxie Wander, die freiwillig in die DDR ausgewanderte österreichische Schriftstellerin.

Gut, genug getratscht – ich wollte heute mehr Bilder raushauen. Et voilà, here we go – das Kullmann-Privat-Feuilleton aus dem Februar:


MALEREI 1

Man bezeichnet es inzwischen als Unboxing-Erlebnis, wenn ein Karton bei einem ankommt und man beim Aufreißen vor Neugier und Freude schier platzt – richtig? Kürzlich war es hier bei uns daheim jedenfalls genau so. UND WAS WAR DRIN?

Dieses extrem-mega-wunderhübsche Gemälde zweier Motten! Schockverliebtheit auf meiner Seite!

Wobei es sich gar nicht um „Motten“ handelt, sondern um Eulenfalter. So hat es die Künstlerin mir kurz darauf erklärt – die fantastische Alexandra Sontag, von der ich im Januar einige Werke in der Berliner Galerie Tammen sah und die ich auch sonst ein ganz kleines bisschen kenne (obwohl sie weit weg von Berlin wohnt).

Dieses Gemälde hat Alexandra Sonntag sozusagen … für mich gemalt! Was unfassbar großzügig von ihr ist. (Vierstellige Summen sind für ihre Werke keine Seltenheit!)

Aber warum tat die Künstlerin das? Und wieso dieses Motiv? Nun, die Details gehen niemanden etwas an (hihi).

Ich will hier jetzt halt mal die Malerei der Alexandra Sonntag feiern (achten Sie auf diesen Namen!) – und die Motten (Falter) feiere ich natürlich ebenso.

Ich habe Frau Sonntag ein Foto gemailt, von der „Petersburger Hängung“ in meinem Salon, die Motten in der Mitte:

Frau Sonntag antwortete, ihr gefalle diese Anordnung recht gut. Hier noch mal im Detail: Links eine Weltraumfahrerin, die Motten fest im Blick – darunter ein Schrotthügel verrosteter Autos aus Cleveland/Ohio – und daneben der Schriftsteller Raymond Carver, rauchend.


MALEREI 2

Auf auffallend einleuchtende Weise passen auch diese Gemälde zum obigen Panorama: die Google-Streetview-Bilder von verlassenen Detroiter Hausruinen, die die Malerin Anna Jander (1967 – 2024) geschaffen hat – sie sind in dem Kunstband IT’S SOUL im Kerber Verlag (2013) versammelt.

Ich hatte damals die Ehre, einen Begleittext zu dieser Bilderserie (klein- und großformatig) zu schreiben, Anna Jander war durch mein Buch RASENDE RUINEN auf meinen Draht zu Detroit aufmerksam geworden. Ich besuchte sie einmal in ihrer Kunstscheune im niedersächsischen Faßberg (wo Anna und ihr Partner Klaus auch politisch sehr aktiv waren). Und dann sind wir uns noch einmal bei einer ihrer Ausstellungen in Hamburg persönlich begegnet.

Vor wenigen Wochen erfuhr ich, dass Anna Jander im vergangenen Frühjahr nach einer kurzen Krankheit gestorben ist, viel zu jung, mit 56 Jahren.

Das ist ungeheuer schade. Eine beeindruckende Person, sehr ruhig, sehr umgänglich, auf den ersten Blick. Aber ein ganz starker Charakter wohnte in dieser Frau, glaube ich. Möge sie nun andernorts sich und anderen ein Bild von allem Möglichen machen, oder besser: viele Bilder. DANKE, ANNA!


FOTOGRAFIE 1

Hellersdorf noch einmal: Der krönende Abschluss des dortigen Spaziergangs war der Besuch der Finissage einer Fotografie-Ausstellung mit dem tollen Titel An den Rändern taumelt das Glück – die späte DDR in der Fotografie in den Räumen der ngbk in Hellersdorf.

Sehr starke Aufnahmen, wie ich fand. Die Ausstellung ist nun vorbei, aber die dort gezeigten Fotografien (und noch sehr viele mehr) sind in einem gleichnamigen Fotoband im Weimarer M. Books Verlag erschienen, sortiert und herausgegeben von Annett Jahn und Ulrike Mönnig. So habe ich, die „Wessi“, die DDR noch nie gesehen.


FOTOGRAFIE 2

Am kommenden Wochenende beginnt wieder der EMOP, der European Month of Photography – und die hochsympathische Künstlerin Rebecca Wilton (wir kennen uns ein wenig, worüber ich mich sehr freue), hat die Berliner EMOP-Schauen entscheidend mitorganisiert.

Auch die geschätzte Fotografin Meike Kenn ist dabei vertreten, in der Ausstellung Passing Distance in einem ehemaligen Einkaufszentrum in Neukölln, wo Werke des Fotografinnen-Kollektivs Herspective zu sehen sind.

(Randbemerkung: Meike Kenn hat mich 2022 für das Magazin Galore fotografiert, dies ist mein Lieblingsmotiv aus der Serie – es ist jetzt aber natürlich nicht in Neukölln ausgestellt, ha!)


LITERATUR

Und ohne Literatur geht es natürlich so gut wie nie. Dieses Buch hier ist gerade eben bei HanserBerlin erschienen: Russische Spezialitäten von Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kyjiw geboren – eine teils sehr witzige bis groteske, auch liebevolle, andererseits aber auch dezent garstige bis erschütternde, bis sogar nervenaufreibende Geschichte – das BUCH DER WOCHE sozusagen – denn soeben hat sich ja der russische Angriffskrieg (die zweite Welle) auf die Ukraine zum dritten Mal gejährt. #StandWithUkraine

Der Klappentext:

Eine Familie aus Kyjiw verkauft russische Spezialitäten in Leipzig. Wodka, Pelmeni, SIM-Karten, Matrosenshirts – und ein irgendwie osteuropäisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Wobei, Letzteres ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht mehr zu haben. Die Mutter steht an der Seite Putins. Und ihr Sohn, der keine Sprache mehr als die russische liebt, keinen Menschen mehr als seine Mutter, aber auch keine Stadt mehr als Kyjiw, verzweifelt. Klug ist es nicht von ihm, mitten im Krieg in die Ukraine zurückzufahren. Aber was soll er tun, wenn es nun einmal keinen anderen Weg gibt, um Mama vom Faschismus und den irren russischen Fernsehlügen zurückzuholen?

(Randbemerkung: Hoppla, auch beim Brautmoden-Blog-Eintrag vor zehn Tagen habe ich schon ein Buch aus der „Hanser-Familie“, sozusagen also aus meiner „Verlags-Familie“, empfohlen: Helene Brachts Das Lieben danach. Aber: Wenn da halt lauter gute Bücher erscheinen, was soll ich machen? In Bälde kommt da ja noch ein Spitzending … aber dazu … erst beim nächsten Mal die volle Dröhnung.)

Einstweilen immer die Ihre: KK


  1. Jetzt habe ich gerade noch mal nachgeschaut, was Agfa ursprünglich für eine Firma war: 1867 als Gesellschaft für Anilinfabrikation mbH in Rummelsburg bei Berlin gegründet, u.a. von Paul Mendelssohn Bartholdy, einem Sohn des berühmten Komponisten Felix M.B., 1925 in der IG Farben aufgegangen (den Rest kennt man). ↩︎
  2. Mittlerweile bezeichne ich mich gern und so oft ich kann als Globalistin – aus politischen Gründen natürlich. Ich nehme an, Sie haben jenes Wort (als Schmähwort) in jüngerer Vergangenheit öfter gehört – und kennen die übel müffelnde Richtung, aus der das Wort abfällig benutzt wird. In diesem Zusammenhang verweise ich hier einfach nur noch mal kurz auf die Kampagne Artists against Antisemitism (der ich mich 2021 angeschlossen habe). ↩︎
Katja Kullmann
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